
Nico Lange (* 23. März 1975 in Berlin) ist ein deutscher Politikberater, Politikwissenschaftlerund Publizist. Er war von 2012 bis 2017 in Leitungspositionen für die Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS), anschließend in der saarländischen Staatskanzlei und in der Zentrale der CDU tätig. Er war bis 2022 Leiter des Leitungsstabs im Bundesministerium der Verteidigung. Er arbeitet seit Juli 2022 als Senior Fellow für die Zeitenwende-Initiative bei der Münchner Sicherheitskonferenz.
Interview von Nico Lange bei der Freien Presse:
Die USA kehren Europa den Rücken. Deutschland rüstet auf. Selbst von Atomwaffen ist die Rede. Wo führt das hin? Die @MunSecConf will dazu diskutieren – unter anderem in Chemnitz und Zwickau.
Freie Presse: Herr Lange, seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine ziehen Sie mit der Münchner Sicherheitskonferenz durch Deutschland und diskutieren mit den Menschen. Wollen Sie sie auf Krieg vorbereiten?
Lange: Wir brauchen eine andere Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Das hat sich keiner ausgesucht. Und es hat auch keiner im Wahlkampf damit geworben. Wir müssen darüber sprechen, weil es am Ende eine demokratische Legitimation dafür braucht.
Freie Presse: Wäre das nicht Aufgabe einer Bundesregierung?
Lange: Meiner Meinung nach, ja. Es braucht Führung, Klarheit und Orientierung. Da füllen wir als Münchner Sicherheitskonferenz mit „Zeitenwende on tour“ eine Lücke.
Freie Presse: Als Sie begonnen haben, standen die USA noch klar auf der Seite der Europäer und der Ukraine. Heute nicht mehr. Haben sich die Diskussionen verändert?
Lange: Wir merken gerade, dass diese Veränderung in den USA den Leuten sehr viele Sorgen bereitet. Was heißt denn das jetzt? Sind wir eigentlich noch Freunde? Auf wen kann man sich noch verlassen? Oder können wir nur noch uns selbst vertrauen? Bislang war es auch bequem. Einerseits haben die Amerikaner für Sicherheit gesorgt, andererseits konnte man die immer auch ein bisschen beschimpfen.
Freie Presse: Wie antworten Sie persönlich auf die Frage bezüglich der USA: Sind wir noch Freunde?
Lange: Die Trump-Administration macht viele Dinge, die darauf hindeuten, dass wir den Vereinigten Staaten von Amerika derzeit nicht vertrauen können. Das hat weitreichende Konsequenzen. Auch wenn es viele Leute nicht wahrhaben wollen: Die Sicherheit, an die wir uns in Deutschland gewöhnt haben, ist zu einem sehr signifikanten Teil den USA zu verdanken gewesen.
Freie Presse: Für wie belastbar halten Sie den Beistandsartikel 5 des Nato-Vertrages im Moment?
Lange: Man muss ganz klar sagen, wir sollten uns auf uns selbst verlassen können. Wir sollten nicht darauf vertrauen, dass andere uns beschützen. Das ist die harte Wahrheit.
Freie Presse: Wäre Europa militärisch in absehbarer Zeit soweit zu befähigen, dass es abschreckend genug wirken könnte, um Russland von einem weiteren Angriff abhalten zu können?
Lange: Wir sind stark, wenn wir das wollen. Bisher wollten wir nicht. Die konventionelle Frage ist dabei viel entscheidender als die nukleare. Russland führt konventionell Krieg gegen die Ukraine. Wir sehen auch, dass Russland gefährlich ist, aber dass Russland bei weitem nicht so stark ist, wie das viele dachten. Wir müssen das jetzt wollen. Und klar ist auch, Sicherheit kostet Geld. Und das steht im Konflikt mit anderen Dingen, die wir eigentlich machen wollen. Aber was sind denn die Alternativen dazu? Dass wir sagen, wir unterwerfen uns jetzt dem Willen Wladimir Putins und machen, was er sagt? Das möchte ich für Deutschland nicht.
Freie Presse: Wenn wir von Amerika unabhängig werden müssen, was heißt das für amerikanische Standorte in Deutschland, Ramstein zum Beispiel, oder den geplanten Kauf amerikanischer Kampfflugzeuge wie der F35?
Lange: Was die Standorte der USA betrifft und auch die Zusammenarbeit mit den US-Truppen generell, finde ich, dass wir nicht dazu beitragen sollten, eine mögliche Entkoppelung noch zu beschleunigen, auch weil wir Zeit dafür brauchen, unsere eigenen Fähigkeiten aufzubauen. Also mein Ratschlag wäre, ruhig bleiben, Fähigkeiten aufbauen.
Freie Presse: Und die F35?
Lange: Diesen Punkt würde ich hinterfragen. Es ist jetzt kritisch zu sehen, Waffensysteme in den USA einzukaufen, bei denen wir nicht selbst entscheiden können, wie wir sie einsetzen. Das ist eine Frage der sicherheitspolitischen Souveränität. Wir müssen auf unsere eigenen Technologien setzen.
Freie Presse: Was böte der Markt als Alternative? An dem europäischen Kampfflugzeug der Zukunft wird schon lange gefeilt.
Lange: Wir haben den Eurofighter zur Verfügung. Das Projekt für ein europäisches Kampfflugzeug der fünften Generation geht sehr langsam voran. Generell sollten wir noch einmal darüber nachdenken, was wir wirklich brauchen. Wir brauchen zum Beispiel viel mehr billige Drohnen. Wir brauchen digitale Führungsfähigkeiten, Satellitenkapazitäten. Wir können das als Europäer, wenn wir das wollen. Zu große, ewig dauernde Rüstungsprojekte helfen uns dagegen wenig weiter. Wir müssen schneller sein.
Freie Presse: Es heißt, in vier oder fünf Jahren sei Russland so weit, unter Umständen weitere europäische Länder anzugreifen. Woran lässt sich diese Prognose festmachen?
Lange: Diese Einschätzung von Fachleuten und von Nachrichtendiensten ist sehr ernst zu nehmen. Putin hat es offen ausgesprochen: Er will die Sicherheitsordnung in Europa fundamental verändern - und er hat gerade erst angefangen. Es geht also nicht um ein paar Quadratkilometer irgendwo im Donbas. Das ist Putin völlig egal. Es geht um eine andere Ordnung in Europa, wo er mit einem starken Russland im Grunde die anderen herumschubsen will. Man kann ihn nur davon abhalten, indem man selbst stark genug ist.
Freie Presse: Putins Ankündigungen, er wolle die Sicherheitsordnung in Europa ändern, sind nicht neu. Welche konkreten Indizien gibt es dafür, dass er jetzt dabei ist, Russland für eine mögliche neue Aggression zu rüsten?
Lange: Es gibt natürlich Informationen, die nicht öffentlich sind, die zu dieser Einschätzung beitragen. Öffentlich bekannt sind Russlands Pläne, seine Streitkräfte neu aufzubauen und neu zu strukturieren, mit beträchtlichen neuen Truppen, die in Richtung Westen ausgerichtet sind.
Freie Presse: Was kann die Ukraine gegen Russland militärisch noch erreichen? Was ist - auch mit europäischer Unterstützung - ein realistisches Ziel?
Lange: Russland hat nach drei Jahren seine militärischen Ziele nicht erreicht. Es gibt die Möglichkeit, Russland zu stoppen, wenn man das will. Dass die Amerikaner jetzt Putin nach dem Mund reden und alles tun, die Ukraine unter Druck zu setzen, halte ich persönlich für falsch. Es ist offensichtlich ein amerikanischer Versuch, irgendwie einen guten Willen bei Putin herbeizuführen. Auch Barack Obama hat das schon mal versucht und dann herausgefunden, dass es nicht funktioniert. Ich halte es für möglich, dass es Trump genauso geht, aber bis dahin wird gewaltiger Schaden angerichtet sein im transatlantischen Verhältnis und vor allen Dingen in der Ukraine, die das ausbaden muss.
Freie Presse: Russland ist nicht in der Lage, die Ukraine zu überrennen. Andererseits kann man nicht davon ausgehen, dass die Ukraine in der Lage sei, Russland wieder komplett vom eigenen Territorium zu vertreiben. Was ist demzufolge ein realistisches Ziel, um einen vernünftigen Frieden aushandeln zu können?
Lange: Ich weiß, dass es möglich ist, Russland militärisch unter Druck zu setzen in der Ukraine, so dass auf diese Weise eine echte Gesprächsbereitschaft entsteht. Dann lässt sich auch eine Lösung finden, die einschließt, dass die Ukraine Teile ihrer Gebiete nicht kontrollieren kann. Vorausgesetzt, dass sie gleichzeitig Sicherheitsgarantien bekommt, so dass die Leute zurückkehren können, wirtschaftliche Entwicklung wieder möglich ist und die Ukraine als Land eine Zukunft hat.
Freie Presse: Druck erhöht auch die Gefahr einer Eskalation. Und zweifellos sitzt Putin an der Stellschraube, an der man sie steuern kann. Kann man darauf vertrauen, dass er es nicht bis zum Einsatz von Atomwaffen treibt?
Lange: Putin nutzt die Angst vor Nuklearwaffen für psychologische Kriegsführung. Und so schwierig das ist, wir dürfen uns nicht von Angst leiden lassen. Wenn man sich einmal dieser Erpressung hingibt, dann wird man für immer erpresst. Ich verstehe jeden, der sich darüber Sorgen macht. Die Erfahrung der letzten drei Jahre ist, Putin hat sich bei Kiew nicht durchgesetzt. Er ist aus Cherson wieder vertrieben worden. Die russischen Truppen haben auch jetzt Probleme. Er hat seine Drohungen nie wahrgemacht. Das ist Angstmacherei.
Freie Presse: Wenn Putin vor allen Dingen die Amerikaner aus Europa fernhalten will, damit er in Europa das Sagen hat, dann ist es eine plausible Strategie bis zu dem Punkt zu eskalieren, an dem sich die Amerikaner tatsächlich entscheiden müssen, geh ich jetzt voll rein oder lieber nach Hause?
Lange: Deswegen rate ich auch dazu, das Problem insofern zu limitieren, als dass man sagt: Es geht nicht darum, nach Moskau zu marschieren. Es geht auch nicht darum, Putin abzusetzen. Es geht darum, die Streitkräfte Russlands in der Ukraine unter Druck zu setzen, um an den Verhandlungstisch zu kommen und eine Lösung zu finden, die dauerhafte Perspektiven und Sicherheit für die Ukraine ermöglicht und verhindert, dass Russland nach einiger Zeit das nächste Land oder nochmals die Ukraine überfällt.
Freie Presse: Dennoch spielen Atomwaffen in der Debatte eine große Rolle. Sind sie der neue Goldstandard für die nationale Sicherheit?
Lange: Die Gefahr ist konventionell und der Krieg ist konventionell. Man muss aufpassen, dass man keine Ersatzdebatte führt. Atomwaffen sind kein Ersatz für konventionelle Verteidigung und konventionelle Abschreckung. Was die nukleare Dimension betrifft, halte ich es für sinnvoll, dass wir in Europa mit den Franzosen und mit den Briten Gespräche führen. Ich halte es aber auch für sinnvoll, das vollkommen vertraulich zu machen und nicht jedem ständig zu sagen, was da genau wie besprochen wird. Die britische Nukleardoktrin sagt: Ja, wir haben solche Waffen, und was wir damit machen, sagen wir keinem. Das hat eine Abschreckungswirkung. Daraus sollten wir lernen.
Freie Presse: Richten wir den Blick in die USA. Sie haben kürzlich in einem Podcast des Deutschenfunks den amerikanischen Vizepräsidenten JD Vance als gefährlich bezeichnet. Warum und inwiefern halten Sie ihn für gefährlich?
Lange: Ich habe JD Vance mehrfach erlebt. Gegenüber den Feinden unserer Ordnung hat er sich immer sehr freundlich verhalten und gegenüber denjenigen, die Amerika traditionell als Freunde hatte, sehr, sehr feindlich. Da stimmt doch etwas nicht. Und jetzt zu denken: Ach, der will nur die Dinge ein bisschen durcheinanderbringen, sozusagen disruptiv vorgehen, das finde ich aus unserer Perspektive einen sehr, sehr gefährlichen Gedanken. Das gilt für ihn wie für Elon Musk. Ich finde es auch verdächtig, wenn Leute, die ich immer als anti-amerikanisch erlebt habe, die immer nur geschimpft haben, wie dumm und primitiv die Amerikaner seien, plötzlich ganz große Fans geworden sind. Auch da denke ich mir, da stimmt doch etwas nicht.
Freie Presse: Es geht den Amerikanern derzeit also nicht nur um Macht, sondern auch um Weltanschauung?
Lange: Ich habe den Eindruck, Donald Trump ist kein Anhänger von Demokratie, Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit und von regelbasierter internationaler Ordnung. Und am liebsten will er vollkommen frei agieren, ohne Verpflichtungen gegenüber der Ukraine, ohne Verpflichtungen gegenüber Deutschland, ohne Verpflichtungen gegenüber der Nato. Einfach völlig frei sein und machen, was immer einem einfällt und was einem gerade nutzt. Er scheint auch zwischen seinen privaten wirtschaftlichen Interessen und den Interessen der USA nicht wirklich zu unterscheiden.
Freie Presse: Hat er auch die Absicht, der Welt einen neuen Geist beizubringen?
Lange: Bei Trump sehe ich das nicht. Ich glaube, Trump handelt einfach im eigenen Interesse, so wie er es versteht. Bei Vance habe ich den Eindruck, dass es darum geht, die rechtsextremen Kräfte auf der Welt zusammenzubringen und so zu tun, als sei das der neue Geist, der jetzt überall Einzug halten müsste. Wir Europäer wissen, wenn überall ein Nationalismus wieder Einzug hält, dann bedeutet das die Wiederkehr des Krieges. Deswegen gibt es ja dieses Europa.
Freie Presse: Hat denn die regelbasierte, internationale Ordnung, von der Deutschland sehr gut gelebt hat, noch eine Chance? Oder hilft jetzt nur noch Stärke?
Lange: Wir importieren Rohstoffe, wir sind schlau und exportieren unsere Güter überall hin. Für dieses Geschäftsmodell brauchen wir Regeln. Wir lernen gerade, dass man Regeln nur haben kann, wenn man dafür Partner findet und stark genug ist, um die Regeln auch durchzusetzen. Dieses Herangehen auf der Grundlage dieser deutschen Interessen ist neu für uns und eine erwachsene Art, Außenpolitik zu betreiben.
Das Interview führte Torsten Kleditzsch.
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