Was mich am meisten aufregt in der heutigen Welt unserer Konsumzufriedenheit eines Wohlstandskapitalismus angesichts der Not und Verelendung des größeren Teils der Menschheit, ist der Verfall natürlicher Werte.
Noch bevor Werte wie jene der Aufklärung - Freiheit, Brüderlichkeit und Gleichheit - unser Leben zunehmend in den aufkommenden Demokratien bestimmten sollten, welche die Prinzipien Rechtsstaatlichkeit, Gewaltentrennung und Menschen- und Bürgerrechte etablierten, gab es grundlegendere Werte als diese: z.B. Ritterlichkeit.
Ritterlichkeit steht für eine Reihe von Tugenden als Ethos des Rittertums im Hochmittelalters (1050-1250)
- Demut
- Würde
- Güte und Freundlichkeit
- Tapferkeit
- Zurückhaltung
- Großzügigkeit
- Hingebungsvolle Liebe
- Treue
- Anstand
In diese Zeit fallen natürlich auch die Kreuzzüge, die auch diese Tugenden ideologisch einer christlichen Ideologie unterordneten. Aber betrachten wir einmal genauer, um was es im Kern geht.
Nun gestaltete sich meine eigene Erziehung in einem christlichen Werterahmen: mein Vater war bis zu seiner Rente mit meiner Mutter als Heimleiterehepaar in Jugendwohn- und Lehrlingsheimen tätig. Er war für den pödagogischen und Verwaltungsteil zuständig, meine Mutter für den Haus- und Wirtschaftsteil.
Das „Christliche“ ergab sich in meiner Familie schon aus der Tradition der Wehrenfennigs, die bis auf die Generation meines Vaters und seiner Geschwister sich ausschließlich aus Pfarrern manifestierte, aus protestantischen Theologen also. Anlässlich einer Festschrift zum 90. Geburtstag des damaligen Kirchenpräsidenten Erich Wehrenfennig - „Heimat und Kirche“ - wurde ein Stammbaum veröffentlicht, der bis an den Anfang des 16. Jahrhunderts zurückreicht. Die theologische Arbeit meiner Vorfahren gestaltete sich Überwiegend in den Sudetenländern und Österreich.
Mein Vater, Jahrgang 1916, konnte kaum seine Ausbildung an einem Technikum abschließen, als er zunächst ins tschechische Militär eingezogen wurde und mit Hitlers Vereinnahmung des Sudetenlands in die deutsche Wehrmacht integriert wurde. Die Sudetendeutschen empfanden das damals als eine Art Befreiung von den Tschechen: es galt die Parole „Heim ins Reich“. Wie überall, wo verschiedene Ethnien zusammenleben, gibt es Konflikte, die sich an einer gewissen Identitätsfindung entzünden und die zwar nachvollziehbar aber in ihren Auswirkungen dann doch auch Unbegreifliches und Schreckliches hervorbringen können.
Nun, von meinem Vater lernte ich, was „Ritterlichkeit“ bedeutet, denn er verbrachte diesen ersten Teil seines Lebens vor meiner Geburt als Offizier in der deutschen Wehrmacht und in russischer Kriegsgefangenschaft. Ich war quasi ein Nachkriegs- und Versöhnungskind, geboren 1955, während mein Bruder 1943 mitten im Krieg geboren wurde.
Mein Vater hat im Eigenverlag einige Bücher geschrieben, in denen er sich mit den Konflikten der Menschlichkeit in Ausnahmesituationen und Ideologien im Wettstreit mit christlichen Werten auseinandersetzte. Letzteres verarbeitet er in seinem Buch „Der Rote Messias“, in dem er sich als Christ mit kommunistischer Ideologie befasste und in seinem Buch „Tagebuch eines Mitläufers“ hat er schließlich seine persönliche Geschichte in der Armee und in Gefangenschaft reflektiert, mit all ihren Konflikten der Moralität, des Gehorsams, der Wünsche und den Träumen eines jungen Mannes, der durch Umstände gezwungen wurde, sein Leben so zu leben, wie er es dann eben tat.
Nach seiner Rückkehr aus russischer Gefangenschaft als Habenichts musste er sich und seine Familie mit Nachtwächterjobs über Wasser halten, bis im Deutschland der Nachkriegszeit ein Bedarf für Lehrlings- und Jugendwohnheime entstand. Damals wurden Ehepaare gesucht, die in einem mehrwöchigen Seminar auf ihre Aufgabe vorbereitet wurden. Da meine Mutter bereits über einen Hauswirtschaftsleiterinnenbrief verfügte, war die Zukunft unserer Famile beschlossen.
Doch zurück zur „Ritterlichkeit“. Ritterlichkeit wurde mir vermittelt als eine Tugend, dass der „Stärkere“ oder „Anständige“ dem „Schwächeren“ immer beizustehen habe. Diese Ritterlichkeit war in der deutschen Wehrmacht durchaus ein Prinzip, das sich deutlich von dem Verhalten der Hitler nahen Organisationen, Gestapo, SS, SA unterschied, in denen Willkür, Denunziation und Grausamkeit an der Tagesordnung waren. Mitglieder der Wehrmacht haben sicher vereinzelt zwar auch gegen die Menschlichkeit verstoßen, aber i.d.R. dürfen wir dort von einem Respekt vor menschlichem Leben ausgehen, soweit man in Extremsituationen des Krieges überhaupt davon reden kann.
Mein Vater begleitete mich dann auch auf meinem Weg als Kriegsdienstverweigerer als Beistand bei meiner Verhandlung. Es ist gut, wenn ein „dekorierter“ Offizier die Schattenseiten von Krieg und Befehlsgewalt glaubhaft und aus Erfahrung darlegen kann und damit auch seine Erziehungsprinzipien, die er mir angedeihen ließ. Ich war zu dieser Zeit eben auch ein Kind der 70er Jahre, in einem erblühenden Wohlstandsdeutschland, indem vom Kalten Krieg zwar gesprochen wurde, er aber eben inzwischen als selbstverständlicher, irgendwie abgesicherter Frieden wahrgenommen wurde. „Frieden ohne Waffen“ und Abrüstung waren unsere Forderungen, Aufstellung von amerikanischen Abschreckungswaffen in Europa waren natürlich verpönt. Die Friedensbewegung trug ihren Teil dazu bei, und die Künstler Joan Baez, Bob Dylan und Donovan thematisierten die Kriege in Korea und Vietnam. Natürlich ist nachträglich auch klar, dass die deutsche Friedensbewegung nicht unwesentlich von östlicher Propaganda vorangetrieben wurde: die damalige UdSSR und DDR haben hier maßgeblich Einfluss genommen.
Spannen wir aber kurz einen Bogen in die Gegenwart des Ukrainekrieges. Die interne Struktur der russischen Armee ist beschrieben worden als brutal hierarchisch: neue Rekruten erfahren keine väterlich einfühlsame Unterstützung durch die Ranghöheren, sondern knallharte, teilweise menschenverachtende Härte.
Russische Militärangehörige werden unter Putin mit Rubel-Geschenken rekrutiert aus entlegenen Ecken der ehemaligen Sowjetrepublik und aus teiweise zweifelhaften bis kriminellen (Gefängnissen) Gesellschaftsgruppen in Russland, jedenfalls dürfte man dort kaum Söhne der Kreml-Eliten ausfindig machen. Obgleich kürzlich Nachrichten auf „x“ erfolgten, die Videos zeigten, in denen in einschlägigen Nachtclubs Moskaus Rekrutierungsrazzien durchgeführt wurden.
Russische Soldaten machen sich inzwischen einen Spass daraus, auf ukrainische Zivilisten mit Drohnen Jagd zu machen. Gefangene des Gegners sollen lieber erst gar nicht gemacht werden, und eigene, verletzte Soldaten nicht hinter die Front gebracht, sondern eher einen Gnadenschuss bekommen. Diese „Verrohung“ in einer Armee, neben den üblichen Vergewaltigungen und Plünderungen, läßt nichts gutes erwarten, was die weitere Entwicklung einer russischen Zivilgesellschaft betrifft. Inzwischen wird bereits an Grundschulen in Russland der Umgang mit Waffen gelehrt…der Weg hin zur Züchtung von Kindersoldaten wie in terroristischen Gruppen in Afrika ist nicht mehr weit.
Stalin Denkmäler werden wieder aufgestellt (Nikita Chruschtschow hatte diese entfernen lassen) und die Verehrung dieses Gewaltherrschers und seines Militarismus wieder zur zweiten Natur erhoben in Schule und Bildung, Geschichte wird ideologisch umgeschrieben, Widerspruch gegen Regierende wird geahndet, freie Meinung unterdrückt, Opposition ausgeschaltet.
Die wenigen überlebenden Soldaten, die aus Gefängnissen rekrutiert wurden, dürfen nach Rückkehr von der Front, wenn sie denn überlebt haben sollten, wieder ihr Unwesen in der Zivilgesellschaft treiben, durch Kriegsgreuel weiter motiviert und ihre Verbindungen in kriminelle Netzwerken nutzend. Man erarbeitet sich nicht mehr, was man zum Leben braucht, man nimmt es sich einfach. Ein Räuber-Staat, der nicht mehr auf eigene Wirtschaftsleistung setzt, außer auf jene in einer Kriegswirtschaft, und der sich einfach wo anders das mit Gewalt holt, was er für sich erforderlich hält.
Verträge mit „unfreundlichen Staaten“ oder jenen, die man sich ideologisch einverleiben möchte, müssen nicht eingehalten werden. Internationales Recht wird außer Kraft gesetzt. In der Öffentlichkeit finden nur noch militärische Drohungen statt, Cyberkriege und Sabotageakte werden gegen westliche Gesellschaften und ihre Institutionen geführt. Seit geraumer Zeit gibt es hierfür einen Begriff: „Schurkenstaat“. Wen wundert es, wenn Putin eine Allianz mit Nordkoreas Kim eingegangen ist?
Die Dimension, was in Russland gerade tatsächlich unter Putin geschieht, wird im Westen aber noch weitgehend ignoriert, oder sollte ich sagen verdrängt, beschönigt und verklärt? Kriegswirtschaft ist das eine, aber was da für Menschen herangezüchtet werden, steht auf einem anderen Blatt.
„Ritterlichkeit“ ist daher z.B. in der russischen Armee derzeit sicher kein Thema. Mein Vater hatte im 2. Weltkrieg diese durchaus auch auf russischer Seite erlebt in russischer Kriegsgefangenschaft in Tiflis/Georgien, wo deutsche Kriegsgefangene kulturell tätig werden durften: keine Folter oder Umerziehung. Aber das hatte wohl auch mehr damit zu tun, dass es immer Teile in einer Armee gibt, die weniger durch ideologischen Hass verblendet sind, und mehr ihrer menschlichen Ausstattung vertrauen.
Warum komme ich überhaupt auf den Wert Ritterlichkeit zu sprechen? Weil wir in der gegenwärtigen Diskussion einer weiteren Unterstützung der Ukraine besonders mit Waffen von einer Zögerlichkeit in eine Verweigerung abzudriften scheinen. Die SPD führt mit ihrem Kanzlerkandidaten Scholz nun ebenfalls wie BSW und AfD einen Friedenskurs der suggerierten Kriegs-Angst, wenn der politische Gegner klare Worte zu einem Umgang der Stärke mit Putin formuliert, die so garnicht in die Wohlfühlwelt der „Besonnenheit“ passen möchte.
„Nie wieder soll Krieg vom deutschen Boden ausgehen“ wird von jenen parasitären Pazifisten skandiert, die von sogenannten Sofagenerälen zu berichten wissen, die doch lieber ihre eigenen Söhne an die ukrainische Front schicken sollten, wenn sie als sogenannte Kriegstreiber für Waffenlieferungen seien.
Umgekehrt wird das Opfer Ukraine zunehmend denunziert, als undemokratisch, nazistisch, korrupt. Die Soldaten zunehmend als fahnenflüchtig, obgleich diese ukrainische Armee seit mehr als 1000 Tagen die zweitgrößte Armee beharrlich an ihren ausgewiesenen Kriegszielen hindert.
Bei einer militärischen Unterlegenheit von zeitweise 1:10 hält die Ukraine den Atacken Russlands erstaunlich stand, obgleich 2/3 der Energie-Infrastruktur von Putin inzwischen vernichtet oder okkupiert wurde, und täglich weitere zivile Einrichtungen vernichtet werden. Man pickiert sich darüber, dass ukrainische Einberufungsstellen auch Gewalt ausüben und die Einberufung auf das 18. Lebensjahr reduziert werden soll…..aber kein Wort über die russische Seite, über ihre Absichten, über ihre Taten und Ihren Umgang mit ihren Soldaten.
Hier läßt sich also Ritterlichkeit vermissen: warum soll man einem Verlierer beistehen? Was kann man schon gegen eine Atommacht ausrichten? Das Geld ist besser für unser eigenes Volk ausgegeben - so BSW und AfD. Und das „grausame Töten“ muss endlich beendet werden - aber auf wessen Kosten eigentlich?
Wir reden von notwendiger Zivilcourage bei Kriminaldelikten im eigenen öffentlichen Raum, aber auf internationaler Ebene wollen wir von einer solchen Tugenden nichts hören.
Wenn wir bereit sind, alle diese Werte der Menschlichkeit über den Haufen zu werfen, nur weil eine Atommacht glaubt, tun zu können was sie möchte, dann wird uns das Jahrhunderte in unserer Entwicklung zurückwerfen, und die gegenwärtigen Umweltprobleme werden uns keine zweite Chance bieten, diesen Schaden wieder zu beheben.
Europa kann Putin durchaus Bedingungen nennen, rote Linien, deren Überschreiten auch er fürchten sollte. Europa ist eine Wirtschaftsmacht, der Putin nichts, aber auch gar nichts entgegenstellen kann….nur es muss endlich geschlossen handeln.
Wenn unser Nochkanzler und zukünftiger Kanzlerkandidat keine „Eier“ hat, dann muss sich eben, wie es gerade auch geschieht, eine “Allianz der Willigen“ bilden, um Putin aufzuhalten. Wer diese Bewegung ebenfalls als Kriegstreiberei interpretiert, hat nichts verstanden und will es auch nicht - er folgt dem Motto: lieber „rot als tot“. Wenn sich Gewalt wieder lohnt, Gnade uns Gott.
Kommentar schreiben