Kann ein Rückblick auf die Zeitenwende 1945 im europäischen Modell neue Anziehungskräfte freilegen? Das liberale Europa entwickelte starke Strahlkräfte: Frieden und Freiheit, offene Erinnerungskulturen und die Menschenrechte bescherten dem Kontinent eine nie zuvor erlebte Stabilität. Doch der britische Stern hat sich verabschiedet, andere schwanken.
Die Beiträge in diesem Band bieten Analysen zu Ursprüngen und Gegenkräften des neuen Europas. Fachdidaktisch werden Fragen nach der kulturellen Identität in der Migrationsgesellschaft untersucht und Ordnungsmodelle der europäischen Geschichte im Schulcurriculum verortet. Sieben Praxisbeiträge präsentieren innovative Konzepte für den Unterricht.
Obiges Buch habe ich noch nicht gelesen, aber ich stelle der Zeitenwende 1945 nun jene von 2022 gegenüber!
Zeitenwende
Dieser Begriff ist in aller Munde, ist er aber auch im Verständnis der Mehrheit der deutschen und auch der europäischen Gesellschaft angekommen?
Europäische Staaten, insbesondere jene, die nach dem 2. Weltkrieg Freiheit und Selbstbestimmung leben durften, scheinen müde zu werden, für diese Werte noch tatkräftig eintreten zu wollen, bis auf jene vielleicht, die in unmittelbarer Nachbarschaft Russlands leben müssen. Die stärksten Ukraineunterstützer pro Kopf der Bevölkerung sind die NB8: Nordic-Baltic Eight (NB8) ist ein regionales Kooperationsformat, dem Dänemark, Estland, Finnland, Island, Lettland, Litauen, Norwegen und Schweden angehören.
Die Begründungen für die restlichen sind vielfältig. Man hat sich in Europa daran gewöhnt, das globale Sicherheitsfragen von den USA und internationalen Einrichtungen wie UN und NATO behandelt werden, dass es zwar einen „Kalten Krieg“ gab, aber das Wettrüsten NATO und Warschauer Pakt hatte zu letzt letzteren wirtschaftlich derart in Bedrängnis gebracht, dass unter Gorbatschow in der UdSSR eine Wende eingeleitet wurde, in wirtschaftlichen und staatlichen Fragen jedenfalls auf westliche Ansätze umzuschwenken: Glasnost und Perestroika.
Das bedeutet aber keinesfalls, dass westliche Systeme, bestehend aus Demokratie und Marktwirtschaft, als Sieger des Kampfes Sozialismus gegen Kapitalismus, hervorgegangen wären, im Gegenteil: der Kapitalismus und insbesondere sein Ableger, die Kolonialisierungsanstrengungen einiger Nationalstaaten, haben für ein wachsendes Ungleichgewicht des Wohlstandes und der Armut auf der Welt geführt.
Kolonialismus und Imperialismus sind aber kein Alleinstellungsmerkmal westlicher Staatssysteme, denn auch im sozialistischen Osten fanden diese Bestrebungen ihre Anhänger. Der Slogan war ein anderer: Arbeiter aller Länder vereinigt euch! Sozialistische Machthaber wie Lenin und Stalin verstanden sehr wohl, wie man Moskau als Zentralmacht einer UdSSR installierte, deren zuletzt 15 Unionsrepubliken gefügig der Stimme Moskau folgten - bis eben im Dezember 1991 die 1922 durch die Bolschewiki gegründete UdSSR sich durch die Alma-Ata-Deklaration auflöste. Als Folge entstanden unabhängige Einzelstaaten, die sich auf Grund ihrer Erfahrungen mit Moskau in der Vergangenheit unter den Schutzschirm der westlichen NATO begaben.
Der heutige Machthaber Russlands und der inzwischen gegründeten Russischen Föderation in Moskau, Wladimir Putin, konnte sich aber mit dieser neuzeitlichen Entwicklung nie abfinden. Noch 1991 beklagte er fassungslos den Zusammenbruch der Weltmacht UdSSR in St. Petersburg, und 10 Jahre später trat er als überzeugter Demokrat im Deutschen Bundestag auf. Putin, ein überzeugter Demokrat 2001, war das so? Intellektuelle wie Gabriele Krone-Schmalz, Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder, Oskar Lafontaine, Klaus von Dohnanyi, um nur einige zu nennen, beharren angesichts eines neuen, heißen Krieges mitten in Europa, ausgelöst durch Putins Überfall auf die Ukraine, darauf: schuld war und ist einzig der Westen und zentral die USA als Garant des transatlantischen Bündnisses.
Es hat seit den 90er eine Auffassung in der deutschen Politik geherrscht, die dem Prinzip „Wandel durch Handel“ folgte: die östlichen Staatsgebilde, gewöhnt an autoritäre Führerschaft, würden sich schon einer westlichen Lebensweise anpassen, westliche Werte wie Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit entwickeln und Rechtsstaatlichkeit über Gewaltherrschaft setzen wollen. Ich glaube, diese Hoffnung ist mit der Machtübernahme des Ex-KGBlers Putin endgültig gestorben. Sein Volk denkt nach jahrzehntelanger Propaganda wie er selbst - man glaubt an die Großmacht Russland und ihren territorialen Anspruch, der unter Gorbatschow verraten wurde. Dieser Verrat wird nun auf Amerika und NATO projiziert: die „Westerweiterung“ sei an allem Schuld, man habe Versprechungen im 2+4 Vertrag nicht eingehalten, und man bedrohe Russlands Grenzen. Intellektuelle Führsprecher gibt es genügend im Westen. Ob eine Sahra Wagenknecht, ein Daniele Ganser, ein Johannes Varwick etc……sie alle spielen Putin in die Hände und wehren sich dagegen, als „Putinversteher“ bezeichnet zu werden, denn sie treten ja nur dafür ein, dass das Sterben in der Ukraine endlich aufhört. Ein wie ich finde perfides Argument, denn das will ja jeder. Nein, sie wollen das, was Putin will, zusammen mit den BRICS (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) und CRINK (China, Russland, Iran, Nordkorea) Staatengebilden: die amerikanische Vorherrschaft brechen, die transatlantische Gemeinschaft destabilisieren.
Gleichzeitig findet in Europa gerade ein Rechtsruck statt: die Sehnsucht nach einfachen Antworten auf komplexe Fragen. Die Demokratien werden analog zu Putins Verständnis als Debattierclubs verstanden, deren Eliten die Bedürfnisse des einfachen Volkes nicht mehr verstehen, da helfen nur starke Führungspersöhnlichkeiten, die einem zeigen, wo es lang geht. Das ist der Nährboden für etwas, was man Faschismus nennt: „eine Form politischen Verhaltens, die gekennzeichnet ist durch eine obsessives Beschäftigung mit dem Niedergang, der Demütigung und der Opferrolle einer Gemeinschaft, sowie einem kompensatorischen Kult um Einheit, Stärke und Reinheit“ (Robert O. Patton).
Wir kennen das als Deutsche aus der Weimarer Republik, was direkt zum Führerkult um Adolf Hitler führte, es wiederholt sich bei Putin wegen des Zerfalls seiner UdSSR und es wiederholt sich bei Frau Wagenknecht, die dem Zusammenbruch einer DDR Made by Walter Ulbricht nachtrauert. Ihre Trauer begann wohl bereits mit der Machtübernahme von Erich Honecker in der ehemaligen DDR, einem ehemaligen Mitglied der damaligen KPD, zehn Jahre in Haft seit 1935 wegen seines Widerstandes gegen den Nationalsozialismus. Ausgerechnet dieser Widerständler war maßgeblicher Organisator der Berliner Mauer und trug den Schießbefehl an der innerdeutschen Grenze mit. In den 80ern wurde das wirtschaftliche Verhältnis der ehemaligen DDR zu Gorbatschows Sowjetunion immer schwieriger. 1987 traf sich Honecker dann mit Helmut Kohl in Bonn und im Saarland mit Oskar Lafontaine.
Hier schließt sich der Kreis bezüglich Sahra Wagenknecht: Lafontaine fungiert nicht nur als Ehemann von Wagenknecht, er bildet in dem neuen BSW auch einen eigenen Machtfaktor. Beide haben eine Biografie des Widerstands in eigenen Parteien hinter sich, beide konnten sich dort nie wirklich mit Mehrheitsentscheidungen abfinden: „wenn man nicht mehr weiter weiss, macht man einen Arbeitskreis“…..man wechselt Parteien, bis man aus beschriebenen Gründen gezwungen ist, eine eigene zu gründen.
Ich erkenne hier klare, autoritäre Tendenzen in BSW bezüglich angestrebter Parteiführungsprinzipien, wie man sie bei sogenannten Kaderparteien vorfindet: Mitglieder werden handverlesen rekrutiert, die Parteiführung verhandelt überall mit….man will keine Zustände wie bei der AfD, rechter Flügel Höcke etc., obgleich sich dort wenigstens in der Vergangenheit demokratische Prozesse bemerkbar machten. Seit der Gründung der AfD unter Bernd Lucke, Frauke Petry, Alexander Gauland etc. fand immer wieder eine Auseinandersetzung mit dem „rechten Rand“ statt, was inzwischen aber Geschichte sein dürfte.
Doch zurück zur Tagespolitik: man kann sich an der Ampel abarbeiten und es gibt genügend berechtigte Kritik. Doch eines kann man gewiss nicht: die deutsche, europäische und transatlantische Sicherheitspolitik destabilisieren in einer Zeit, in der ein russischer Imperialismus in Europa wieder nach Größe sucht.
Aber auch diese bestehende Sicherheitsarchitektur wird derzeit von der Ampel, besonders der SPD torpediert. Als Kanzler eine Zeitenwende zu erkennen und auszusprechen, der überfallenen Ukraine Beistand zu bekunden, und dann aber militärisch mit angezogener Handbremse zu agieren, ist unredlich. Immer wieder vorgeschobene Argumente zu platzieren wie, Eskalation vermeiden, erst Rücksprache mit NATO-Partnern halten…..all dieses ist keine Führerschaft, die man bei einem Kanzler einfordern könnte, nach seinen eigenen Worten. Am Ende kann er Taurus-Marschflugkörper und weitreichende Wirkungen von westlichen Waffen gegen Russland aus persönlicher Einstellung nicht zulassen. Geht es noch zynischer?
Diese Taktik des Zögerns und Pazifizierens eines für die Ukraine und damit auch für Europa tödlichen Konfliktes empfinde ich als Pazifist als unerträglich. Frieden schaffen ohne Waffen geht nicht in einem heißen Krieg vor der Haustüre. Wer so etwas propagiert, meist eben nur an die Adresse der Verteidiger der Freiheit gerichtet, nicht etwa gegenüber dem Aggressor, verkennt den Ernst der Lage: es geht in der Ukraine darum, ob Gewalt über Recht stehen darf oder nicht, nicht mehr und nicht weniger!
Wenn eine derartige Zögerlichkeit dazu führt, dass sogenannte Pazifisten nun tönen können, die russische Armee als Überlegene zu klassifizieren, nur weil man als Westen nicht das Richtige zum richtigen Zeitpunkt liefert und freigibt, ist umso mehr peinlich. Die russische Armee ist seit den 90er ebenso veraltet an Material und Ausbildung wie das westliche Europa. Die ukrainische Armee hat hier das Gegenteil bewiesen. Inzwischen dürfte Putin seine UdSSR Kriegsbestände aufgebraucht haben und ohne iranische und chinesische Unterstützung wäre das bereits offensichtlich. Die eigene, nun eingeleitete Kriegswirtschaft in Russland ist noch nicht in der Lage, Materialverluste innerhalb eines Monats auszugleichen. Das Personal für den Überfall auf die Ukraine wird längst aus Straftätern und jenen rekrutiert, die fern ab von den Eliten in Moskau mit Rubelscheinen an die Front gelockt werden: besser dort sterben als am Wodka, so der russische Führer an die Witwen der Gefallenen.
Die russische Armee ist verwahrlost und menschenverachtend, ebenso wie ihre Kreml-Elite in Moskau. Ein Mafia-Staat der Selbstbedienung. Die Intelligenz ist bereits geflohen in den Westen, die Wirtschaft kann nichts von Wert mehr selbst produzieren, ausser vielleicht in 5 Jahren eigene Tötungsmaschinen. So sieht es aus mit der vermeintlichen Gegenseite von Friedensverhandlungen. Laut dem Soziologen Lev Gudkov, der eine der wenigen neutralen Umfragen in Russland durchführte, ist es unrealistisch, dass sich Putin auf Friedensverhandlungen einlassen wird. Und sein Volk steht hinter ihm. Die Sehnsucht nach Größe ist dem leidenden russischen Volk wichtiger und das Vertrauen in den starken Mann Putin an ihrer Spitze unverzichtbar. Mit diesen Ausgangsbedingungen komme ich zu dem Schluss: nur ein beherztes militärisches Vorgehen kann die Ukraine und damit auch uns noch retten.
Die Atomdrohungen Putins darf man getrost als solche auffassen: Drohungen zur Schaffung von Angst in westlichen Gesellschaften. Aber der Westen hat genügend Abschreckungspotential, so dass auch ein Putin nicht den roten Knopf drücken wird. Nein, dieser Krieg wird konventionell entschieden, und eine effektive Absicherung der Ukraine ist nur innerhalb der NATO möglich, die dieses Abschreckungspotential beherbergt. Alle anderen Absicherungsverträge der Vergangenheit dürfen als gescheitert betrachtet werden.
Zeitenwende: wann werden endlich Worte durch Taten untermauert?
Russland ist kontinental zwar Europa näher als Amerika, aber gemessen an menschlichen Werten ist gegenwärtig das Gegenteil der Fall.
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