Aufmerksamkeit im Informationszeitalter

Als Jazzfan und Mitglied der IGJazz Stuttgart habe ich natürlich auch die Fachzeitschrift „Jazzpodium“ abonniert, die Dieter Zimmerle gründete. Ab 1947 war er Jazz-Redakteur und -Moderator beim SDR und 1952 Gründer und Herausgeber der Zeitschrift „Jazz Podium“, die er bis zu seinem Tod 1989 leitete. Die Jazzveranstaltungen im Südwesten, Live-Mitschnitte des SDR, z.B im AT Musikpodium (Pit Haug), von denen ich viele miterleben durfte, wurden von ihm begleitet.


In der aktuellen Ausgabe 10-11 2024 fand ich zum Thema der Überschrift einen sehr guten Artikel von Dilan Saltan, den ich ungekürzt zitieren möchte:


DILAN SALATAN studiert Germanistik und Anglistik, fand Berlin zu preußisch, Würzburg zu fränkisch, lebt deshalb wieder in der hohenlohischen Provinz, was den großen Vorteil hat, dass einer der besten Klubs für improvisierte Musik um die Ecke liegt. Sie schreibt für die Lokalpresse und seit einer Weile fürs Jazz Podium. Sie hat einmal für Archie Shepp und Reggie Workman in einer Nacht-und-Nebel-Aktion chinesisches Essen aufgetrieben und wird Peter Brötzmanns letztes Solokonzert im Januar 2023 nie vergessen.


Es hat Tradition, dass ältere Generationen sich von Zeit zu Zeit veranlasst sehen, den jüngeren in überlegener Manier zur Kenntnis zu geben, ihre moderne Lebensweise bedinge die Verflachung, den Verfall, ja - den Untergang der Kultur. Jene Kulturtechnik, deren Niedergang man dabei immer wieder symptomatisch vorherzusehen glaubt, ist das Lesen. Jedes neue Medium, das sich im Zuge des technischen Fortschritts herausbildet, erneuert die alten Vorbehalte und Klagen: Im letzten Jahrhundert waren es die Konkurrenzmedien Film, Fernsehen oder Hörfunk, deren Aufkommen man zum Anlass nahm, das gedruckte Wort für tot zu erklären. Heute macht man die digitalen Medien verantwortlich für die schwindende Leselust. Aber stimmt es überhaupt, dass die Lesekultur im Verfall begriffen ist? Ist den jüngeren Generationen im Zuge der Digitalisierung nun tatsächlich und letztgültig die Freude am Lesen vergangen? 


Ganz im Gegenteil! Es wird heute sogar weit mehr gelesen als noch vor ein paar Jahren. Statistiken machen deutlich: Die digitale Gegenwartsgesellschaft ist eine Gesell- schaft der Viel- und Dauerleser. Ein Blick in die Geschichte zeigt zudem: Es ist ganz natürlich, dass die Mediennutzung einem stetigen Wandel unterliegt. Heute liest man eben vornehmlich auf dem Bildschirm, das spart immerhin Papier. Und ob uns ein Text nun in digitaler oder papierener Form vorliegt, macht ja letztlich keinen Unterschied, schließlich ist es der Inhalt, der zählt. 


Man darf also aufatmen, die jungen Leute haben das Lesen nicht verlernt. 

Dennoch sind die Auswirkungen des durch die Digitalisierung veränderten Medienverhaltens auf das Leseverhalten mitunter gravierend, warnt auch die Forschung. Der rasante technische Fortschritt der letzten Jahrzehnte und die damit einhergehenden digitalen Transformationsprozesse haben unsere sozialen und gesellschaftlichen Strukturen grundlegend verändert. Das hat seine Vorzüge: Grenzen des Raumes und der Zeit sind heute nicht viel mehr als ein Konstrukt. Eine Entwicklung, die ihrer ökonomischen Vorteile wegen eigentlich zur Entschleunigung unseres Alltags beitragen und uns mehr Gelegenheit zum langsamen and vertieften Lesen bieten sollte. 


Die Realität sieht jedoch anders aus. Die unüberschaubare digitale Informationsflut, der nicht enden wollende Nachrichtenstrom, das Gefühl permanenter Erreichbarkeit im Berufsleben wie im Privaten, die Angst angesichts unerschöpflicher Möglichkeiten etwas verpassen zu können, führen zu einer „sozialen Beschleunigung“ und zwingen den „Homo digitalis“ - möchte er up to date bleiben - zum Querlesen, zum Überfliegen. 

Das macht aus dem Leser des 21. Jahrhunderts vor allem eines: einen unaufmerksamen, ungeduldigen, nervös-flatterhaften Scroller, der nicht mehr zielgerichtet nach einem Buch, einer Zeitung oder Zeitschrift greift, sondern seine Informationen am liebsten algorithmisch vorselektiert und häppchenweise in Form von Eilmeldungen, Push- Benachrichtigungen oder Tweets auf seinem Handy-Display serviert bekommt. Das Fatale daran: die sprunghafte und oberflächliche Beschäftigung mit Texten führt dazu, dass unser Gehirn das langsame und vertiefende Lesen verlernt, denn auch diese Fähigkeit kann und muss trainiert werden. Die Folge: eine verringerte Aufmerksamkeitsspanne, sowohl auf individueller als auch auf gesamtgesellschaftlicher Ebene - das Interesse an einzelnen Themen verflüchtigt sich binnen kürzester Zeit. Es verwundert also nicht, dass die meisten Menschen kaum mehr gewillt oder gar in der Lage sind, sich über längere Zeit konzentriert und intensiv mit einem Text zu beschäftigen, der die Länge und Tiefe einer reißerischen Reklame überschreitet. Auch das Jazz Podium erreichen immer wieder Klagen darüber, die abgedruckten Texte seien zu lang. Die moderne Lebensführung erweist sich nun mal als eher ungünstig für den Typus des im guten Sinne müßigen Lesers, der Konzentration und Geduld beweisen muss, will er sich in ernster Absicht einem komplexeren Sachverhalt stellen, sich ein tieferes und umfassenderes Verständnis eines Themas verschaffen oder sich zum bloßen Vergnügen in den wundersamen Phantasie- und Sprachgebilden narrativer Texte verlieren. Gut möglich also, dass der Lesekultur ihr Untergang droht. Aber war das je anders? I JAZZ PODIUM 10-11 | 2024 Seit 33 .

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