Toleranz ist ein öffentliches Thema geworden, insbesondere im Meinungsaustausch politischer Strömungen in der analogen und besonders auch in der digitalen Öffentlichkeit.
Neulich hörte ich mir den Podcast Folge 144 von Lanz&Precht an, Thema: „Was sind westliche Werte“.
Herr Precht, dessen Intellekt ich ebenso wie den von Frau Wagenknecht einst sehr bewunderte, stößt bei mir inzwischen ähnlich wie bei Frau Wagenknecht bezüglich deren Haltungen zum Ukrainekrieg auf Kritik. Habe ich vielleicht auch ein Toleranzproblem mit von mir abweichenden Meinungen? Wir werden sehen!
Frustration kann zur Aggression führen und letztere zur Gewalt. Die Psychologie spricht von der Ausbildung einer Frustrationstoleranz, um Wege aufzuweisen, Gewalt zu verhindern.
Ich bin eher ein Mensch, der weniger zur Gewalt neigt, auch wenn mir manchmal Gewaltphantasien in den Sinn kommen. Irgendwie kann ich physische Gewalt besser intellektuell kompensieren - das macht sie natürlich nicht ungefährlicher, im Gegenteil.
Wenn intellektuell kompensierte Gewalt öffentlich auf einfachere Geister trifft, kann sie eine vergiftete Atmosphäre erzeugen und am Ende auch dort in physische Gewalt münden, das ist mir zumindest bewußt.
Wir, die wir in einer Demokratie leben dürfen, ich meine dabei eine westlicher Prägung mit den hohen Gütern der Meinungsfreiheit und Menschenwürde im Gegensatz zu jenen auf der Welt, bei denen zwar auch „Wahlen“ stattfinden, die zitierten Werte allerdings zu Wünschen übrig lassen, haben uns so daran gewöhnt, das wir das für selbstverständlich nehmen.
Als selbsverständlich nehmen wir es inzwischen auch, dass wir friedlich weiter zusammenleben können, auch wenn um uns herum auf der Welt Kriege toben. Wir können uns Meinungen und Haltungen zu diesen Kriegen leisten, unabhängig von den physischen und psychischen Erfahrungen der unmittelbar Kriegsbetroffenen.
Da können Angehörige fremder Kulturen in unserer Demokratie gegen Missstände ihrer Heimatländer auf die Strasse gehen und protestieren - dürfen sie aber auch ein islamisches Kalifat ausrufen? Wieviel Toleranz lässt unser Grundgesetz zu, wenn es selbst in Frage gestellt wird? Was ist noch durch Meinungsfreiheit gedeckt, und was nicht?
Oder eingefleischte Stolz-Deutsche grölen Parolen aus unserer Nazi-Vergangenheit heraus: noch durch Meinungsfreiheit gedeckt, oder nicht?
Ich hatte in früheren Aufsätzen die heutige Welt als politisch eingeteilt in Autokratien und Demokratien beschrieben, die um ihre Vormachtstellung kämpfen. Herr Precht vertritt im Podcast und in seinem neuen Buch „Jahrhundert der Toleranz“ eine andere Meinung: wir müssen uns mit anderen Werteordnungen fremder Kulturen arrangieren. Er gibt Lanz gegenüber zu, dass sein Buch den gewünschten Sollzustand beschreibt, gegenwärtig aber noch das Gegenteil der Fall ist.
Er führt Begriffe wie „Sendungsbewußstsein“ und „Missionszwang“ ins Feld, wenn es um die westlichen Werte geht, insbesondere bei den monotheistisch ausgerichteten Staatsgebilden, und attestiert gleichzeitig einigen östlichen Staatsgebilden wie in China und Russland einen Mangel an ideologischem Sendungsbewußtsein. Wir stehen „systemisch“ nicht mit China im Konflikt, sondern eher mit den Vertreterstaaten des Islam usw..
Betrachte ich aber die weltweiten Gegenbewegungen zu westlichen Institutionen wirtschaftlich (G7 vs. BRICS) und politisch (NATO vs. CRINK), fällt es mir schwer, bei diesen Gegenbewegungen kein Sendungsbewußtsein zu identifizieren.
Precht identifiziert zu Recht historisch die ehemalige Sowjetunion als Kollonialstaat. Der Unterschied zum Westen: die russischen Kollonien waren Nachbarländer, die Kollonien der europäischen Stammländer befanden sich auf anderen Kontinenten. Aber beides war und ist Kollonianismus.
Wenn Putin an der Ukraine Hand anlegt, dann sicher auch wegen dem ukrainischen „Ruhrgebiet“ Donbas. Aber geben seine Bezugnahmen auf das Prinzip „Ruski Mir“ nicht auch genügend Hinweise auf eine Ideologische Motivation mit Sendungsbewusstsein? Alles was russisch spricht und bei drei nicht auf dem Baum ist, gehört zu mir?
Kehren wir zu unserem Ausgangspunkt der Gewaltspirale zurück: Frustration - Aggression - Gewalt. Man kann deutlich Parallelen erkennen zwischen Sahra Wagenknecht und Wladimir Putin, die auch eine gewisse, gegenseitige Affinität vermuten lassen: beide sind frustrierte Seelen. Die eine, weil ihr DDR-Staat zerfallen ist, der andere, weil seine UdSSR zerfallen ist. Bei Putin war die Frustrationstoleranz wohl so klein, dass er inzwischen seine Frustration mit Aggression und Gewalt ausdrückt. Bei Frau Wagenknecht müssen wir noch etwas warten, denke ich. Aber einen „Missionseifer“ würde ich beiden nicht absprechen wollen. Oder meint Herr Precht, dass Putin als Ex-KGBler, ansässig damals in der DDR, nicht auch Gelüste auf dieses Gebiet haben könnte, um die alte UdSSR-Macht wieder auferstehen zu lassen? Woher nimmt man derartige Sicherheiten eines eingeschränkten Ausbreitungswillens von aggressiven Staaten in der bei westlichen Intellektuellen angesiedelten Friedens- und Verhandlungseuphorie?
Muss also der westliche Werte-Missionseifer einer Annalena Baerbock als deutsche Außenministerin gegenüber autokratischen Herrschern gebremst werden? Ja, es stimmt: ein „schulmeisterliches“ Auftreten ist sicher nicht diplomatisch, aber eine klare Stellungnahme schon, denke ich.
Wie stellt sich Herr Precht ein tolerantes Miteinander zwischen unterschiedlichen Staatsideologien also vor? Ich weiß es nicht. Ich nehme wahr, dass für ihn Russland keine Ideologie mehr vertritt wie noch am Anfang des Kalten Krieges: Sozialismus, Kommunismus gegen Kapitalismus. Aber vielleicht ist diese Ideologie einer Ideologie nationalistischer Ausbreitung (Schaffung von Lebensraum oder von neuen Staatsmitgliedern) und der Schaffung neuer Machtzonen auf der Welt gewichen?
Herr Precht bemüht den Begriff „Anokratie“, der nachweisen soll, dass es Staaten gibt, die weder autokratisch noch demokratisch sind. Ich bin mal gespannt bei der praktischen Umsetzung einer Einteilung unserer Staatenwelt in diese 3 Kategorien Demokratie - Autokratie - Anokratie und den praktischen Nutzen daraus.
Wir haben bereits unsere Demokratien eingeteilt in echte, halbechte und Scheindemokratien. Hat uns das weitergeholfen? Den Intellekt mag diese Haarspalterei befriedigen, praktische Antworten kann zumindest ich nicht daraus ableiten. Ich kann zwar verstehen, dass wenn ein Präsident zu viel Macht neben den anderen Staatsinstitutionen hat, es kompliziert, wenn nicht gar gefährlich werden kann: ein Donald Trump, der an den Parlamenten vorbei mit Dekreten regiert.
Ein Macron, der die französische Nationalversammlung auflösen kann, und dabei unregierbare Zustände verursachen könnte.
„Meine Freiheit endet dort, wo die des anderen beginnt“ wurde mal als gängiger Toleranzmaßstab beachtet. Können wir sowas beim russischen Überfall auf die Ukraine noch beobachten? Oder müssen wir einfach russische Toleranzmaßstäbe im Umgang miteinander in Zukunft berücksichtigen?
Eigentlich ist es ganz einfach. Auf der Idividualebene muss ein bei Gewalt angekommener Probant innerhalb der Spirale „Frustration - Aggression - Gewalt“ zunächst mit Gegengewalt gebremst werden, zur Not mit staatlicher Gewalt. Doch auf der Kollektivebene? Wer repräsentiert global diese „Staatsmacht“, die UN vielleicht? Der UN Sicherheitsrat, in dem einzelne Mitgleider mit Vetorechten alles verhindern können? Gegengewalt bei Russlands Angriffskrieg bedeutet für mich Waffenlieferungen neben Verhandlungen! Verhandlungsangebote, die Unterwerfung unter die unveränderlichen Ziele des Aggressors fordern, sind keine. Man muss auch keine Verhandlungsbereitschaft testen, wenn dieser Test seit 2014 schon erfolglos läuft.
Ich bleibe bei meiner Einteilung: Demokratien und Autokratien. Demokratien wägen Individualrechte gegen Staatsrechte ab (Abwehrrechte), Autokratien wägen nicht ab, sie stellen das Kollektivinteresse über das Individualinteresse und meist wird das Kollektivinteresse von einer politischen Clique festgelegt: Politbüro, Oligarchen - schlicht von sogenannten Eliten - oder einem Alleinherrscher, Diktator.
Solange noch bei den Eliten einer Gesellschaft ein Selbstbereicherungsreflex auf Kosten der Masse vorherrscht, geht an der Demokratie als Erziehungsinstrument nichts vorbei, und selbst sie tut sich noch schwer damit, wie Lobbyismus und Korruption beweisen.
Der Ukraine aber den Vorwurf zu machen, und damit die Hilfe gegen Russland zu verweigern, sie selbst sei unwürdig, in die EU oder NATO aufgenommen zu werden ob ihrer demokratischen Standards, ist infam. Die Ukraine dürfte die jüngste Demokratie in Europa sein, bemüht sich trotz Kriegszusand an demokratischen Erfordernissen zu arbeiten, und verdient unsere Hilfe auf jeder Ebene. Und ja, sie verfügt auch über Resourcen, die den europäischen Handel befruchten könnten, wenn nach den russischen Bomben und Raketen noch etwas von alledem übrig bleiben sollte.
Schauen wir zum Vergleich nach dem in der EU etablierten Ungarn, wo ein Victor Orban sein Unwesen treibt: setzt sich wie eine Made in den Europa-Speck, sackt Milliarden ein und setzt offen auf Konfrontation mit der EU. Derweil bereichern er und seine Oligarchen sich an diesen Milliarden und bauen Paläste, und sein einfaches Volk bekommt ab und an auf dem Lande Besuch von ihm, wo er Hilfsgüter und Almosen verteilt, während die Infrastruktur zerfällt und er die Staatstruktur von einer Demokratie in eine Autokratie verwandelt, ganz nach seinem Vorbild Putin.
Also, wenn man mich nach Toleranz fragt, so antworte ich: jene, die nur sich selbst bereichern und nicht ihr Volk, verdienen keine Toleranz. Jene, die gewaltsam in unserem Land für ihr eigenes Land oder gegen dessen Feinde agieren, verdienen keine Toleranz.
Die Demokratien auf der Welt sind in der Minderheit, und sie befinden sich auf dem Rückzug: rechtsnationale Kräfte rufen vermehrt nach starken Händen, man ist die ewigen Diskussionen und den Bürokratismus in Demokratien leid. Man ist es Leid, von „denen da oben“ falsch regiert zu werden. Da liefern Autokratien ein besseres Bild: in Putins Russland steht die überwiegende Mehrheit des Volkes tatsächlich hinter ihm: er verleiht einem heruntergewirtschafteten Volk wenigstens nationalen Stolz durch eine Ideologie eines „starken Mannes“, als den er sich auch präsentiert. Doch das Bild beginnt zu wackeln. Die russische Armee, einst zweitgrößte der Welt, hat gewaltig Federn lassen müssen, bereits am Anfang des Ukraineüberfalles. Inzwischen ist der Verbrauch an Mensch und Gerät zumindest derart, dass Gerät nicht mehr ausreichend nachgeliefert werden kann, trotz aktueller Umstellung auf Kriegswirtschaft. Natürlich hat Putin keine Chance im Wettrüsten mit dem Westen, er weiß das sehr wohl und spielt auf Zeit: die Präsidentschaftswahlen im November in den USA. Der Zerfall der UdSSR war bereits Beweis dafür, dass das Wettrüsten für Russland wirtschaftlich verhängnisvoll ist, ebenso wie die zunehmende Korruption. Jüngst ist eine stellvertretende Verteidigunsministerin in den Westen nach Frankreich übergelaufen. Man erkennt Auflösungserscheinungen im Militär, wenn auch noch nicht im Kreml.
Die ewigen Erzählungen des BSW, Russland sei unbesiegbar, sind langsam nicht mehr zu ertragen: Russland schafft sich selber ab durch falsche ideologische und wirtschaftliche Ausrichtung. Da selbst der Finanzaustausch mit China nicht mehr so funktionieren will, greift man auf den letzten Geächteten in Nord Korea zurück - wie peinlich ist das denn?
Die großen intellektuellen Entwürfe eines Precht im „Jahrhunder der Toleranz“ mögen ein wichtiger Beitrag für die Zukunft der Menschheit sein, doch zu allererst benötigen wir Individuen in Staatsgebilden, die Volkswohl über Eigenwohl stellen, in Demokratien und Autokratien.
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