„Diplomatie statt Waffen“?

Über das Buch


 „Deutsche Stimmen zum Ukrainekrieg - Bedrohter Diskurs - Diplomatie statt Waffen“

(Hrsg. Herrmann Theisen/ Helmut Donat)


Buchanalyse von

Ilko-Sascha Kowalczuk  (* 4. April 1967 in Ost-Berlin) ist ein deutscher Historiker und Publizist mit dem Schwerpunkt Aufarbeitung der SED-Diktatur.

„In der Einleitung werden drei Orientierungspunkte festgehalten, die die Beiträge motivieren:


1. Wer eine wehrhafte Demokratie einfordert und die Bundeswehr als „kriegstüchtig“ aufgestellt sehen will, verbreitet „Töne militaristischer Denkungsart“. Es ließe sich fragen, was eine Armee sollte, die nicht „kriegstüchtig“ ist. Herausgeber und fast alle der sechzig Autoren würde wahrscheinlich entgegnen, sie sind ohnehin für die Abschaffung der Bundeswehr.


2. Die meisten Verfasser betonen, wie der Einleitungstext, pflichtschuldig, dass Putin und Russland irgendwie auch mitschuldig am Krieg gegen die (sie schreiben fast immer „in der“) Ukraine sind. Aber letztlich führe die USA in der Ukraine einen „Stellvertreterkrieg“. Und für fast alle Autoren steht fest, der Krieg in der Ukraine sei vermeidbar gewesen, wenn die USA und die EU nur gewollt hätten. Es ist zum Teil abenteuerlich, was die überwiegend weder als Experten für Russland und die Ukraine noch für internationale Sicherheits- und Friedenspolitik bislang aufgefallenen Verfasser an Konstruktionen vortragen, um „nachzuweisen“, dass Anfang und Ende des Krieges allein an der Ukraine, den USA und Europa lägen. Ja, kein einziger der sechzig Aufsätze setzt sich irgendwie mit der Frage auseinander, warum Putins Russland ein Interesse am Krieg und der Eroberung der Ukraine haben könnte und was Putin strategischen Ziel ist - keine einziger! 


3. Schließlich wird am Anfang behauptet: „Die deutsche Debatte über den Ukrainekrieg ist geprägt von Kriegsbefürwortung und -propaganda, vermehrten Waffenlieferungen, Feindbilddenken, Russenfurcht und Schwertglauben. Ein offener Diskurs, der die unterschiedlichen Auffassungen und gegensätzlichen Argumente gleichberechtigt nebeneinander zur Sprache bringt, findet nicht statt. Andere Stimmen kommen kaum zu Wort, finden in großen Zeitungen, im Rundfunk und im Fernsehen nur selten Gehör.“ Offenbar hören die Herausgeber keinen Deutschlandfunk und schauen keine TV-Talkshows im deutschen Fernsehen (die im russischen Staatsfernsehen wären ihnen übrigens auch zu empfehlen). Ich zähle nur mal ein paar Verfasser auf, die in diesem Band vertreten sind und jeder kann allein anhand daran den Realitätsgehalt dieser Aussage überprüfen: 


Franz Alt, Peter Brandt, Christoph Butterwegge, Eugen Drewermann, Margot Käßmann, Gabriele Krone-Schmalz, Heribert Prantl, Johano Strasser, Michael von der Schulenburg, Günter Verheugen, Sahra Wagenknecht. (Ein Autor meint sogar, er sei zum Wolf-Biermann-DDR-Leben gezwungen, er lebe in Deutschland, könne aber nur in Russland und russlandnahen Medien publizieren.)


Der Band ist intellektuell unterirdisch: Fast jeder Beitrag reiht Klischee und Kitschphrasen wie aus einem Freundesbuch einer Kita-Gruppe aneinander, in dem jeder mit der abgedroschensten Phrase zu überzeugen beansprucht und auch noch als originell gelten möchte. Das Einzige, was ich den Autoren zugute halte: Sie haben Angst, große Angst und sind deshalb bereit, alles aufzugeben, nur um unter welchen Umständen auch immer weiterleben zu können.


Zunächst aber, und hier kommt in mir nur noch grenzenlose Verachtung hoch, sind sie der Meinung, die Ukrainer sollten genau das beherzigen: Alles aufgeben, um den russischen, also den totbringenden Frieden zu erreichen. Und würden mir die Autoren etwas bedeuten, käme großes und andauerndes Fremdschämen auf angesichts soviel politischer und intellektueller Peinlichkeiten. Wäre doch der Band wenigstens ausgewogen! Doch er liest eher wie ein Zettelkasten aus der Schublade einer realitätsfernen Sekte, die vor allem eines will: Recht haben, Recht behalten, Recht bekommen. Wer auf Krieg nur eine Antwort weiß, nämlich die Waffen zu strecken, um dem Aggressor zu geben, wonach es dem verlangt, der hat kein Recht, sich auf Frieden und Menschenrechte und internationale Ordnungen zu berufen.


Es stechen nur ganz wenig Beiträge aus dem allgemeinen Tiefgang heraus. Der Diplomat Michael von der Schulenburg pocht auf der UN-Charta – das ist gewiss für die Zukunft nicht verkehrt. Seine historischen Ausfallerscheinungen bezogen auf die Sowjetunion/Russland lassen ihn allerdings nicht als ernsthaften Gesprächspartner erscheinen. 


Besonders erstaunlich jedoch ist der Beitrag von Markus Meckel – dieser steht völlig quer zu dem gesamten Band. Keine Ahnung, was Meckel veranlasst hat, überhaupt bei diesem Propagandaschinken mitzumachen, er verleiht ihm damit eine Qualität, die der nicht verdient hätte. Inhaltlich bleibt Meckel klar, kann aber naturgemäß auch nicht viel zu der Frage beitragen, wie die internationale Nachkriegsordnung (sein Thema) aussehen könnte. Als früherem Pfarrer bleibt ihm immer der Glaube an das Gute und daran, dass sich dort im Kleinen, wo Ukrainer und Russen und Deutsche heute in der Diaspora zusammenarbeiten, vollzieht, was dereinst im Großen möglich sein müsse.


Der Band wird späteren Historikern als Quellenmaterial nützlich sein. Heute demonstriert er die Irrungen und Wirrungen „guter Deutscher“, die sich nicht vorstellen können, dass das Problem die Diktatur Putins und dessen Herrschaftsambitionen sind.“


Soweit der Buchkommentar von Ilko-Sascha Kowalczuk


Ich möchte das noch durch folgenden Beitrag eines Verfassers auf der „x“ Plattform ergänzen, der die russische Donbas-Lüge seit 2014 aufdeckt und damit vielen der deutschen „Friedensintellektuellen“ den Nährboden entzieht:


„ Es wird behauptet: "Die Ukraine hat ab 2014 den Donbass, ein Gebiet mit russlandfreundlichen Menschen in der Ostukraine, beschossen. Es gab dort Tausende Opfer unter Zivilisten." Diese Behauptung ist falsch.


Richtig ist: Diese Behauptung wird von 

russischer Seite gezielt als Vorwand für den Angriffskrieg gestreut. Es gab vor der russischen Invasion keine Bombardierung des Donbass 

durch die Ukraine.


Immer wieder wird behauptet, die Ukraine  sei verantwortlich für „15 000 Tote im  Donbass“ seit 2014 und habe „die eigenen  Leute“ bombardiert, sodass Russland „schützend eingreifen musste“. Das ist ein durch Wladimir Putin und Russland  gezielt konstruierter Vorwand für den Krieg. 


Russland verbreitet diese Falschinformationen im Rahmen der hybriden  Kriegsführung besonders in Deutschland. Die Zahl „15 000“ stammt aus Aufrundungen der Schätzungen der Vereinten  Nationen. Allerdings handelt es sich dabei nicht um Opfer angeblicher ukrainischer Angriffe. Die Zahlen der Vereinten Nationen gehen von etwa 3500 getöteten Zivilisten aus, etwa 4000 ukrainischen Soldaten, etwa 5500 Toten bei den von Russland angeleiteten bewaffneten Separatisten. 


Es lässt sich bei den etwa 3500 zivilen  Opfern im Donbass der Jahre 2014 und 2015  nicht genau sagen, ob sie sich auf einer Seite der Auseinandersetzung verorteten und ob diese Menschen „pro-ukrainisch“ oder „pro-russisch” waren. 


Enthalten sind in der  Zahl auch die 298 Passagiere des abgeschossenen Flugs MH17. Es ist besonders zynisch, die getöteten Menschen ausgerechnet der  Ukraine anrechnen zu wollen angesichts der Tatsache, dass das Passagierflugzeug  durch von Russland gesteuerte Separatisten  mit russischen Flugabwehrraketen abgeschossen wurde. 


Nach den Jahren 2014 und 2015 sank die  Zahl der Opfer im Donbass. Laut dem letzten Bericht der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa  (OSZE) kamen 161 Zivilisten im Zeitraum von Januar 2017 bis Mitte September 2020 ums Leben – etwa gleich viele auf beiden  Seiten. Etwa die Hälfte dieser Opfer starb  durch Unfälle mit Minen und Blindgängern.  


Es gab vor dem Beginn des russischen Großangriffs auf die Ukraine am 24. Februar 2022  keine „Bombardierungen“ der Zivilbevölkerung im Donbass durch die Ukraine und es gab auch keinerlei Pläne der Ukraine, den Donbass militärisch angreifen zu wollen.


Weder die OSZE-Beobachtermission, die mit dem Einverständnis Russlands seit 2014  die Lage beobachtete, noch der Bericht der Vereinten Nationen vom September 2021 sehen Anzeichen für einen Genozid oder gezieltes Vorgehen der Ukraine gegen die „pro-russische Zivilbevölkerung“. 


Ein Bericht des UNHCR (Hochkommissariat der  Vereinten Nationen für Flüchtlinge) vom Juli 2016 fasst zusammen: „Der bewaffnete  Konflikt, der durch den Zustrom ausländischer Kämpfer und Waffen aus der Russischen Föderation angeheizt wird, ist für die  meisten Verletzungen des Rechts auf Leben  in der Ukraine in den letzten zwei Jahren  verantwortlich.“


Die russische Propaganda hat die offizielle Gesamtzahl nach den Angaben der Vereinten Nationen auf „15 000“ aufgerundet und daraus entgegen der Sachlage propagandistisch „Opfer der ukrainischen  Angriffe auf den Donbass“ gemacht. Bis heute wird diese Propaganda in Diskussionen um den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und die ukrainische Selbstverteidigung ständig wiederholt.  Durch Fakten ist sie nicht gedeckt.“


Meine Meinung


Der russische Vorwurf, die Ukraine hätte vor dem russischen Überfall auf eigenem Territorium lebende Russen bedrängt, diskriminiert und vernichtet und der Maidan-Aufstand sei ein Putschversuch des Westens gewesen, ist eine typische Projektion der Russischen Föderation über ihr eigenes Vorgehen: Putintreue Russen „sickern“ in die ukrainische Population ein, unterwandern diese und schaffen eine Scheinrealität der eigenen Bedrohung, zu der Putin dann als Befreier der Russen auftreten kann.


Moldawien und Georgien sind bereits auf ähnliche Weise infiltriert und man kann dort auf Hilferufe russischer Separatisten warten.


In dieser Kreml-Taktik liegt der einzige Unterschied im Vergleich zur Sudetenfrage 1939: die Sudetendeutschen haben Hitler seinerzeit tatsächlich als Befreier gesehen, während Putin sein Willkommensein in der Ukraine als Befreier von Anfang an falsch interpretiert hat.

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