Nachdem ich gestern wieder einmal den Polittalk bei Markus Lanz verfolgte, wurde ich Zeuge eines interessanten Gedankenaustausches zwischen Franz Müntefering (SPD) und Gerhart Baum (FDP). Anlass war die 75 Jahresfeier des GG, aber auch die Herausforderungen, denen sich gerade die westlichen Demokratien stellen müssen. Da werden von einem russischen Diktator mitten in Europa willkürlich und gegen das Völkerrecht mit Gewalt Grenzen verschoben, die nach 1945 verbindlich im Einvernehmen aller Nationen festgelegt wurden. In Europa formieren sich rechte Kräfte, die wieder faschistische und nationalistische Tendenzen vertreten. Der durch Migration ausgelöste Mix an Kulturen bei gleichzeitigen Wirtschaftseinbrüchen wegen Pandemie, Krieg und Klimakrise, wird für viele unerträglich als Konkurrenz betrachtet.
Die durch diese Krisen verursachte Verteuerung der Rohstoffe und der Energieversorgung läßt außenpolitische Verantwortung schwinden: Verschwendung von Steuermilliarden für Aufrüstung und Waffenhilfe für die Ukraine, statt Lösung sozialer Probleme wir angeprangert. Das sich die globale Weltordnung gerade in eine Richtung verändert, die den behaglichen Frieden in Europa, bisher beschützt überwiegend durch die USA, zukünftig in Frage stellen, wird einfach ausgeblendet.
Man macht Wahlkampf mit Slogans wie „Krieg oder Frieden“ (BSW), verschweigend, dass es überwiegend ukrainische Sowjetsoldaten waren, welche Nazi-Deutschland damals bezwungen haben, mit Waffen versteht sich. Und jetzt sollen wir der Ukraine nicht mit Waffenhilfe beistehen, bevor Putin mit seiner faschistischen Russifizierung in der Ukraine Erfolg hat? Will man das nicht sehen? Meint man tatsächlich, das ginge gänzlich ohne Waffen? Wie naiv kann man sein!
Da werden aberwitzige Argumente hervorgebracht wie: „die Ukraine kann gegen Russland nicht gewinnen….sieht man ja gerade bei den Ortsverlusten der Ukrainer“. Dass aber gerade die zwar zugesagten Lieferungen des Westens immer zu spät kamen und auf diese Weise erst das Problem der vermeintlichen, russsischen Überlegenheit beschworen wird, wird verschwiegen: zu wenig Waffen sind umgekehrt der eigentliche Grund für die gegenwärtige Oberhand der russischen Armee. Und was heißt schon „gewinnen“? Russland unterwerfen, Putin demütigen? Nein: Putin den Widerstand entgegenbringen, der ihn zu Verhandlungen nötigt, ohne Gesichtsverlust. Die andere Alternative, keine Waffenunterstützung, bedeutet für Europa: man muss sich an keine Abmachungen halten und kann wieder mit Gewalt willkürlich Grenzen verschieben.
Auf der Welt formiert sich gerade auch ein Block von Staaten unter der Führung von Autokraten in China und Russland, der die Weltordnung einer amerikanischen Hegonomie ablösen möchte. Das Wirtschaftsbündnis BRICS betrachtet sich als Gegenentwurf zu G7 und G20. Das ist verständlich, denn die bisher Dollar und USA zentrierte Weltwirtschaft muss vielleicht umdenken.
In den sozialen Medien wird Deutschland, seine Ampel-Regierung und seine Institutionen wie Verfassungsschutz und Legislative von politischen Kräften wie der AfD und dem BSW zunehmend als inkompetent bezichtigt bis hin zur Behauptung, man würde gegen diese politischen, oppositionellen Kräfte von Seiten des Staates vor Wahlen intrigieren.
Die Verfolgung möglicher Straftaten durch Vertreter der AfD (Bestechung, Hochverrat, Kolaboration mit Russland und China) werden als Verschwörungserzählungen der Regierenden und der Presse abgetan. Kurz: wir nähern uns einer Situation in Deutschland, die derjenigen von Donald Trumps Republikanern in Amerika immer mehr ähnelt: Fakenews ersetzen Fakten, ein Populismus der einfachen „Wahrheiten“ und entsprechender Lösungen greift um sich.
Und all dies in einem Land, dass mit seinem Grundgesetz nach dem Zweiten Weltkrieg wie ein Phönix aus der Asche auferstanden ist: nach einem von Hitler-Deutschland angezettelten Fächengroßbrand auf der Welt mit ungeheuerlichen und abscheulichen Greueltaten an Juden, Sinti und Roma, an qeeren Menschen, wird am 23. Mai 1949 eine Verfassung aus der Taufe gehoben, die ihresgleichen auf der Welt sucht. In ihr werden explizit die kurz zuvor festgelegten Menschenrechte der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948 explizit aufgenommen: Artikel 1-19 GG.
Und für die „Reichsbürger“ Gläubigen, die meinen, Deutschland hätte bis heute keine Verfassung, sei angemerkt:
Am 3. Oktober 1990 trat die DDR dem Grundgesetz bei, nachdem die
Außenminister von Bundesrepublik, DDR, Sowjetunion, USA, Frankreich und Großbritannien von Mai bis September 1990 hierüber verhandelten. Sie unterzeichnen am 12. September 1990 in Moskau den Zwei-Plus-Vier-Vertrag, der außenpolitisch den Weg zur Einheit ebnet.
Damit hat das GG seinen „vorläufigen Status“ verloren und gilt für Gesamtdeutschland. Dieses Grundgesetz stellt den Menschen in den Vordergrund, seine Freiheitsrechte, seine Würde, seine Gleichheitsrechte und seine Abwehrkräfte gegen jegliche, unberechtigte Staatsgewalt.
Richtig: „unberechtigte“ Staatsgewalt, denn „Gewalt“ ist in einer unfertigen Welt leider immer noch erforderlich. Der Staat muss sich durchsetzen können, wenn er in Gefahr gerät. In Gefahr gerät er nicht, bloß weil in ihm andere Staatsformen propagiert werden - Beispiel Kalifat - , denn das ist noch Meinungsfreiheit. In Gefahr gerät er allerdings, wenn im Verborgenen oder offen gewaltorientiert und undemokratisch an seiner Auflösung gearbeitet wird. Die Demokratie, unsere Verfassung muss wehrhaft sein, und sie ist es, nach innen und nach außen, allerdings ohne den Bürgern Maulkörbe aufzuerlegen, wie derzeit meist aus dem rechten Lager behauptet wird. Wie echte Maulkörbe aussehen, mag man in Putins Russland erkunden.
Und genau hier sind wir am Kernpunkt unserer Verfassung und ihrem Artikel 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“.
Man mag über Frau Berbock lästern wie man will, sie betreibe eine „wertebezogene“ Außenpolitik statt einer „interessenbezogenen“. Freilich sollen wir gegenüber anderen Ländern nicht schulmeisterlich auftreten, aber diesen zentralen Wert der Aufklärung dürfen wir schon ins Zentrum rücken.
Denn was geschieht, wenn die „Würde des Menschen“ keine Rolle mehr spielt, sehen wir in allen derzeitigen Autokratien. Kann man mit Vertragsbrechern und Lügnern Geschäfte und Verträge schließen? Bedarf es nicht einer globalen Mindestmoral für ein solches Miteinander? Ich denke schon.
Völkerrecht kann derzeit missachtet werden, weil es gerade an einer durchsetzungsfähigen „Völkerrechts-Gewalt“ mangelt. Man sieht, Frau Wagenknecht, ohne „Gewalt“ scheint es nicht zu gehen und Gewalt meint die Möglichkeit auch mit Waffen drohen zu können. Was taugen Sicherheitsgarantien ohne Gewaltpotential der Garanten, was taugen die viel beschworenen Verhandlungen ohne Sicherheitsgarantien?
Ich höre dann immer den Ruf nach China. Hat man noch nicht begriffen, dass China Russland gerade immer stärker an sich bindet, gegen den Westen? Will man den Bock zum Gärtner machen?
Für mich ist daher schon aus außenpolitischen Gründen BSW nicht wählbar. Und Außenpolitik, bei allen Problemen im Innland, ist entscheidend in einem Zeitalter, in dem Aggressoren sich wieder breit machen mit Waffengewalt. Was hat es der Ukraine genutzt, sich um ihre inneren Angelegenheiten zu kümmern, als sie von Putins Truppen überfallen wurden?
Wenn Sicherheit nicht ist, ist nichts mehr. Was soll also das Geschwätz von Milliardenvergeudung für Aufrüstung? So kann man nur argumentieren, wenn man sich scheinbar sicher fühlt. Aber worauf beruht in Deutschland dieses Gefühl der Sicherheit jener, die auf der anderen Seite nicht müde werden, Angst vor einem dritten Weltkrieg zu beschwören, wenn man nicht artig den Aggressoren willig ist? Da wird von Kriegstreibern geredet - gehts noch naiver?
Die „Würde des Menschen ist unantasbar“ ist der Leuchtturm unserer Verfassung. Und unsere Demokratie ist ein Vorbild auf der Welt - ihre Stärke wird von den Autokraten als Schwäche verhöhnt, und genau hier müssen wir gegensteuern.
Es geht nicht darum anzuerkennen, dass es ohne Russland kein friedliches Europa geben kann, das ist eine Binsenwahrheit, aber es geht darum, dass ein Kollaborieren mit der Kreml-Kleptokratie scharf zurückgewiesen wird. Wenn AfD Funktionäre sich bei Sekt und Kaviar im Kreml rumtreiben und sich als zukünftige Regierung Deutschlands in Szene setzen, muss der deutsche Rechtsstaat handeln, und er wird es tun.
Demokratie ist nicht selbstverständlich und keine einmalige Errungenschaft. Für sie muss täglich eingetreten werden. Jeder von uns muss sich klar machen, was genau ihm gerade das derzeitige Leben positiv ermöglicht und weniger darüber zu meckern, was alles falsch läuft. Der richtige Umgang mit Informationen ist essentiell in einer Zeit der Propaganda-Trolle, Fakenews und KI. Das ist nicht einfach und auch nicht bequem! Einen gewissen Zeitaufwand muss man tatsächlich für sein Gemeinswesen auch in politischer Hinsicht aufbringen, sonst werden wir bald wieder Überraschungen erleben, die unsere Eltern schmerzhaft erlebt haben.
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