Wann ist ein Mensch ein Mensch?

Dumme Frage? 


Der Mensch wird als Mensch geboren - ist das wirklich so? Genetisch, biologisch ist das wohl zunächst eine Binsenweisheit, aber der Mensch ist ja offensichtlich mehr als seine bilogische Realität.


Wir sprechen z.B auch manchmal von Unmenschen, von Menschen, die tierisches oder primitives Verhalten zeigen, manchmal unterscheiden wir nach Rassen oder Ethnien, manchmal auch nach Funktionstüchtigkeit oder Nützlichkeit und treffen dann Entscheidungen der Art, ob es sich bei dem betrachteten Leben auch um wertes oder unwertes handeln könnte.


Keine Frage: unsere Einschätzung des Menschseins begründet unseren Umgang mit dem Menschsein. Können wir uns selbst aber richtig einschätzen? Zumindest sind wir die einzigen uns bekannten Wesen auf diesem Planeten mit der Fähigkeit zur Selbstreflektion.


Diese Frage beschäftigt die Menschheit seit Anbeginn: was macht den Menschen eigentlich aus? Ist es seine Vernunftbegabtheit, sein mitfühlendes Wesen, seine soziale Ausrichtung, sein Vermögen, zwischen Gut und Böse unterscheiden zu können?


Vernunftbegabung hat uns aus unserer Vorzeit in ein Technologiezeitalter nach dem anderen katapultiert. Mit den gefühlsbezogenen und sozial- psychologischen Aspekten ist das hingegen so eine Sache. Hier kommen Religionen, Lebensanschauungen und Philosophien ins Spiel.


Ein normaler Mensch durchläuft nach seiner Geburt verschiedene Entwicklungen durch den Einfluss seines persönlichen Umfeldes. Soziales Verhalten wird ebenso gelernt wie die Aneignung von Wissen, Charaktereigenschaften werden ausgeprägt. Darüber gibt es ganze Wissenschaftszweige, die sich dieser Themen annehmen. Über das alles möchte ich jetzt aber nicht sprechen.


Meine Frage lautet: warum gelangen wir trotz all dieser Entwicklungsstufen immer noch nicht zu einer friedvolleren Welt, in der weniger Gewalt unter uns und gegen die Natur ausgeübt wird. Warum sind Feindseligkeit, Ausbeutung, Grausamkeit und Selbstsucht immer noch unter uns gegenwärtig?


Es gibt Politiker, die zumindest bei der Gewalt gegen die Natur und der Behebung der Folgen auf Technik vertrauen - der Gedanke der Ausbeutung und ihr Zusammenhang mit ausufernden Bedürfnissen wird noch zu wenig thematisiert.


Aber auch in Fragen der Sicherheit wird auf Technik vertraut: Abschreckung, Drohung, Abschirmung usw..


Die Technologie ist unsere zeitgemäße Religion: sie wird schon alles richten! Aber Technik für sich kann keine Lösung sein, denn sie ist nur ein Werkzeug, um bestimmte Ziele zu erreichen.


Digitale Medien und Social Media zeigen deutlich, dass nicht nur quantitativ mehr Ausstausch stattfindet, es findet auch mehr qualitativ fragwürdiger Austausch statt: Verschwörung, Bashing, Hetze, Konsumanstachelung etc.. Hohle Stammtischgespräche finden nicht mehr in der Kneipe um die Ecke statt, sie finden nun an jedem Ort zu jeder Zeit auf dem Handy statt. Die neue Technik scheint nicht automatisch uns zu bessere Menschen zu machen. Doch halt: besserer Mensch, was könnte das überhaupt bedeuten?


Es gibt das alte bekannte Bild aus verschiedenen religiösen Überlieferungen, dass der gegenwärtige Mensch nur ein Samenkorn sei, dass noch zur Reife ansteht. Und es wird weiter behauptet, dass man ohne Kenntnis der Frucht bei einem Samenkorn noch keine Aussage über das Endprodukt treffen kann, das es hervorbringen könnte.


Ich habe an diesem Ort bereits einige Aufsätze hinterlegt, bei denen ich mich um diese „spirituelle Dimension“ des Menschseins bereits gekümmert habe. Egal um welche Religion oder Philosophie es sich handelt: der geborene Mensch ist danach ein Unfertiger! Seine einseitig gewachsenen, mentalen Fähigkeiten machen ihn noch nicht vollständig im Sinne einer gedachten Evolution, sondern lediglich zu einem denkenden Automaten, der seinen Antrieben willkürlich ausgesetzt bleibt.


Es gibt Physiologen und Neurologen die heute belegen: was unser Gehirn zu einem bestimmten Zeitpunkt zu tun gedenkt, ist längst in eine entsprechende Handlung, umgesetzt, bevor wir das merken - das Gehirn versorgt uns also lediglich im Nachhinein mit der Illusion der Täterschaft eines Handelnden. Das ist auch gute, tausende Jahre alte Advaita Lehre aus den Veden und Upanishaden.


Umgekehrt hält die Wissenschaft aber auch schon Techniken bereit, mit denen ein Patient nur mit Gedankenkraft Prothesen zu zielgerichteten Handlungen bringen kann. Ein Widerspruch? Ich denke nein: das Geheimnis liegt darin, wie „bewußt“ man zu jedem Zeitpunkt seiner Existenz tatsächlich ist. Die meiste Zeit dürften wir selbst im Wachszustand nich tief schlafen und ein Automatismus übernimmt in uns die Steuerung. Das kann jeder mit einem Einkaufszettel testen, indem er nach dem Einkauf überprüft, was drauf stand und was nun im Warenkorb liegt.


Ganz unauffällig geschieht das, wenn wir uns unterhalten. Manche reden auch vom „Smalltalk“ und gemeint ist das mechanische Austauschen von Erlebnissen und Meinungen: z.B. tauschen sich ältere Menschen vorwiegend über ihre Zipperlein des Alters aus, oder über ihre Kinder und Enkel. „Beklagen“ nimmt einen großen Raum bei derartigen Unterhaltungen ein: es geht oft um Gesundheit, Politik, Sozialverhalten der anderen usw..


Dieser Redeautomatismus ist tatsächlich weit verbreitet: Stichwort - Reaktion, und schon läuft die Konversation. Ein Austausch zwischen Menschen, der oft als belanglos bezeichnet werden könnte, und doch ist selbst diese Interaktion unverzichtbar für unser Wohlsein. Es ist ein notwendiger Aspekt unserer Interaktionen, aber kein hinreichender. Hinreichend wäre eine Interaktion, wenn wir unser inneres Wesen offenbaren könnten, unsere Träume, Wünsche, Befürchtungen und Ängste. Dafür aber scheint uns das normale Umfeld, in dem wir uns täglich bewegen, noch nicht geeignet genug zu sein - es fehlt am Vertrauen. Mangelndes Vertrauen aber hängt zusammen mit unserem unbewussten Wissen über unseren unfertigen Zustand als Mensch, oft auch als Projektion auf unser Gegenüber übertragen.


Und dann kommt da noch unserer Begrenztheit hinzu: die kleine Zeitspanne zwischen Geburt und Tod, die oft als willkürlich bewerteten, unangenehmen bis schlimmen Ereignisse, aber auch die als wohlverdiente Früchte eigener Anstrengungen wahrgenommenen Ereignisse von angenehmen bis euphorischen Erlebnissen.


Aber es bleiben Geburt und Tod als unbeeinflussbare Eckpfeiler unserer Existenz. Warum überhaupt das ganze Theater? Einige Religionen sprechen in der Tat von einem „göttlichen Spiel“ - aber wer spielt bitte mit wem und warum? Und was bedeutet nun wieder „göttlich“ im Zusammenhang mit unserem Menschsein?


Das „göttliche“ hat bei uns Menschen eine Tradition. Manche Rationalisten bezeichnen es als die Projektion des menschlichen Verstandes, der eine Antwort auf das „warum“ benötigt. Aber schon kleinste Kinder fragen ständig und bei allem „warum“, und ihr Verstand scheint noch nicht erheblich ausgeprägt zu sein.


Warum existiere ich überhaupt? Warum existiert überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? Hat man das wenigstens bereits als positives Momentum eines „guten Willens“ für sich identifiziert, bleibt dennoch viel Leid im Laufe eines Lebens wahrnehmbar, dass einen verleiten könnte zu fragen: was soll an diesem „Willen“ der „Existenzzulassung“ überhaupt gut sein? Sicher, es ist eine Frage der persönlichen Erfahrungen und ggf. der Schicksalsschläge,  die unterschiedliche Antworten erlauben. Buddha sagte: „leben ist leiden“ und im Hinduismus ist die wichtigste Aufgabe zu Lebzeiten das eigene Karma abzuarbeiten um eine weitere Wiedergeburt unbedingt zu vermeiden: das Ende des Samsara, man möchte ins Nirvana, das NICHTS eintreten. Dabei ist NICHTS eine andere Ausdrucksweise für ALLES.


Etwas zuzulassen bedeutet eine Zusage, bedeutet sie aber auch automatisch eine Fürsorge? Und wie muss Fürsorge eigentlich aussehen? Ist sie immer angenehm oder manchmal auch eher unangenehm für denjenigen, der sie erfährt?


Nun, jeder Mensch hat seine eigenen Antworten, wenn er diese Art Fragen überhaupt zulässt. Aber es scheint sicher, dass wir alle eine Art Schicksalsgemeinschaft bilden, bei der jeder und jede mit jedem und allem in Beziehung steht. Wir erkennen das oft nur im engen Umfeld und weniger, wenn in China ein Fahrrad umfällt. Und dennoch hat selbst die morderne Wissenschaft mit der Theorie der „Morphogenetischen Felder“ einen Erklärungsversuch gestartet, der Kollektivphänomene beteiligter Individuen untersucht.


Wir haben in der Menschheit einen mentalen Zustand erreicht, der größtenteils unser primitives Dasein beendet hat - mit Rückfällen, versteht sich. Es steht aber noch ein weiterer Zustand der Evolution aus: der wahre Mensch, oder das „Supramental“, oder auch das „göttliche Momentum“ im Menschen selbst. Denn wenn der Mensch schon „Götter“ in seine Umwelt projiziert hat, muss er das „göttliche“ doch irgendwie beinhalten….nichts anderes behaupten die großen Religionsgründer, die alle das „Göttliche“ nicht im Außen suchen sondern im eigenen Inneren. Sri Aurobindo Ghose und Mirra Alfassa beschreiben in ihren Werken das eigentliche, noch ausstehende Ziel der Evolution und damit des Menschen.


„Sag mir, wo du Gott suchst, und ich sage dir, wo du in deiner Entwicklung stehst“ könnte man zusammenfassen. Wenn du „Gott“ nicht suchst, verleugnest du selbst sogar deine primitivste Stufe, die du bereits überwunden zu haben scheinst.


Das „Heil“ findet sich in keinem Jenseits, sondern das „göttliche Leben“ will sich hier auf der Erde manifestieren.


Buchempfehlungen


„Über den Menschen hinaus“ - Leben und Werk von Sri Aurobindo und Mutter - Georges van Vrekhem


„Psychologie der möglichen Evolution des Menschen“ - Ouspensky


Leben aus der Kabbala - das Handbuch für den spirituellen Weg - Michael Laitman

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