Ein neues Jahr ist angebrochen und die meisten von uns haben wieder gute Vorsätze gefasst, was sie in ihrem Leben positiv verändern wollen. Meist geht es um das Ablegen sogenannter „schlechter“ Gewohnheiten, Gewohnheiten, die einem ein schlechtes Gewissen machen.
Wie aber steht es mit unserem Gewissen bezüglich unseren verdrängten Lebensträumen, jene Kräfte also, die unsere Affinität zu Menschen, Dingen, Einstellungen und Verwirklichungsphantasien darstellen?
Ich spreche nicht davon, wo oder wie der nächste Urlaub geplant wird, der Wunsch nach einem eigenen Haus realisert oder die Gründung einer Familie in Angriff genommen wird. Das sind alles Dinge, die ebenso lediglich durch alte Konditionierungen begründet sein könnten, Grundbedürfnisse nach Geborgenheit, Nähe, und Selbstbestimmtheit, die sich in ihrer Erfüllung allzu oft an anderen Menschen orientieren, die in unseren Leben eine wichtige Rolle spielen und gespielt haben.
Ich spreche von Affinitäten, also von echten Anziehungskräften, die im Laufe unseres Lebens immer wieder auftauchen und verschwinden, die uns kurz innehalten lassen, vielleicht erschrecken oder zumindest irritieren, und die wir allzu leicht dem gewohnten Alltag wieder opfern.
Affinitäten sind aber die Träger unserer Seele, sie sind unser persönlicher Lebenssinn.
Ich gebe am besten mal ein Beispiel von mir selbst.
Heute, mit 68 Lebensjahren, erkenne ich bei mir zwei Hauptpfeiler oder Lebensstützen, die immer wieder auftauchten, aber es nie zu einer Profession geschafft haben, also zu einem Status, der das Leben gänzlich trägt, sowohl seelisch emotional, intellektuell, aber auch finanziell.
Menschen, die diese Selbstträgerschaft im Leben erreicht haben, etwas zu realisieren, für das sie brennen und damit auch gleichzeitig ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können, sind seltener in einer bürgerlichen Gesellschaft anzutreffen, denn hier gelten klare Strukturierungsgesetze, die bereits in Kindergarten und Schule implantiert werden. Individualität wird zwar auch beschworen, aber es gibt im Bildungswesen wenig praktische Ansätze, diese wirklich zu fördern.
Ich zum Beispiel war immer schon spirituell und musisch ausgerichtet, beides ist für mich untrennbar verbunden. Die bürgerliche Erziehung hat mich am Ende aber zu einem bestens funktionierenden Softwareentwickler werden lassen, der im Beamtenstatus teilweise herausfordernde IT-Projekte mit internationaler Zusammenarbeit absolvierte. Dabei ist es durchaus nicht so gewesen, dass dieser „Job“ völlig ohne Affinität betrieben wurde, im Gegenteil: das Verstehen wollen von Systemen, deren Verbesserung hatten für mich bis zu einem bestimmten Grad auch ihren analytischen Reiz, besonders wenn der Nutzen für jene, die das System benötigten, ersichtlich war. Es liegt aber in der Natur der Sache, dass sich solche Systeme im Lauf der Zeit und bei einem Wechsel der Akteure in den Chefetagen in ihren Zielen derart verselbstständigen, dass der direkte Nutzen für Endbenutzer verloren geht und nur noch technische Feinheiten und Prestigetechnologien im Wettbewerbskampf mit Konkurrenten in den Vordergrund treten. Da werden dann gut laufende Systeme ohne echte Not nur auf andere, technische Plattformen übertragen, ohne ersichtliche Vorteile für den Endnutzer, aber durchaus mit erheblichen Herausforderungen auf Entwicklerseite.
Mir blieb in den 40 Berufsjahren nur übrig, meine besondere Affinität zur Musik und zur Spiritualität als Hobby in der Freizeit auszuüben. Das hat mich zwar „getragen“ aber nicht „erfüllt“. Erüllung hätte ich vermutlich erreicht, wenn ich mich in den 70er Jahren für eine Musikerkarriere entschieden hätte, wozu mir allerdings durch meine Konditionierung der Mut fehlte. Zudem hatte ich in der lokalen Musikszene in Stuttgart viel Kontakt zu Profimusikern im Jazzbereich, die nicht gerade ermutigende Beispiele lieferten, was das Bestreiten des Lebensunterhaltes mit Musikmachen betrifft. Aber sie lebten dennoch ihre Musik und zeigten Fähigkeiten, die manch berühmte Kollegen auf den Weltbühnen durchaus vermissen lassen. Auf den Bühnen der Welt bewegt sich nur eine kleine Prozentzahl derjenigen, die dieser Affinität unbedingt folgen müssen. Man kann natürlich auch als Musiklehrer oder Orchestermitglied sein Auskommen haben.
Aber in einer Technik-Affinen Welt wird den Tüfftlern natürlich eine größere Bühne bereitet werden.
Freilich gibt es Künstler(innen) wie z.B. eine Andrea Berg, oder eine Helene Fischer, die genau jene Sehnsüchte ihres Publikums zu bedienen wissen, wohlwissend, dass sie stellvertretend dem Durchschnittsbürger nur eine Ablenkung vom Alltag gewähren.
Für Träume muss man eben was riskieren, oder in Kauf nehmen. Alles hat letztlich seinen Preis, und wir entscheiden, ob wir ihn bezahlen möchten.
Warum erleben wir eigentlich derzeit eine Flut von „Influencern“ unter Jugendlichen im Internet? Es geht um ein „gesehen werden wollen“, und sei es nur in der Präsentation vom eigenen Lifestyle und seiner zugehörigen Accessoires. Inzwischen werden auch Influencer(innen) inzwischen wie VIPs zu Events eingeladen. Sie leben von der Anzahl erzielter Clicks, die von den Werbeträgern bezahlt werden.
Diese Influencer wollen alle keinen 9 to 5 Job bürgerlicher Prägung. Und sie leben eigentlich von einem ausufernden Kapitalismus der Konsumgesellschaft: ich bin was ich habe!
Aber zurück zu echter Affinität, wobei das Anbieten von Lifestyleprodukten durchaus eine echte kaufmännische Affinität darstellen kann, ohne vorheriger, bürgerlicher Legitimierung durch Studium oder Lehre.
Also, die eigenen Affinitäten sind durchaus bedenkenswert und es ist bestimmt förderlich im Sinne einer Lebenszufriedenheit, ihnen mehr Aufmerksamkeit zu schenken.
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