Inspiriert von einem Vortrag von Dr. Alireza Nurbakhsh - dem amtierenden Meister des Nimatullahi Sufi Ordens - möchte ich heute einmal betrachten, was „Liebe“ eigentlich sein könnte, aber leider nicht ist, wenn wir uns unsere alltäglichen Beziehungen so vor Augen führen.
Partnerschaften wechseln immer häufiger, es gibt zunehmend mehr Einzelhaushalte, Depressionen nehmen zu, Gewalt gegen Frauen nimmt zu, besondere Erlebnis-Events sollen für immer mehr Menschen den faden Lebensalltag bereichern und Langeweile vertreiben, letztere führt oft auch zu Gewalt und respektloser Zerstörung von Fremdeigentum, oft auch durch Jugendliche, die keine andere Herausforderung mehr finden.
Es handelt sich insgesamt um die Schattenseiten unserer Leistungsgesellschaften, die uns ständig einflüstern, dass das „Haben“ von Dingen oder Beziehungen wichtiger sei, als das „Sein“ an sich. Eine Folge des Wohlstandes innerhalb einer überwiegend materialistisch ausgerichteten Weltanschauung der Menschen.
Zunehmende Respektlosigkeit ist ein Indiz für eine Verwahrlosung menschlichen Verhaltens. Sie zeigt sich in allen Lebensbereichen, sei es im Straßenverkehr, am Arbeitsplatz oder selbst in den privatesten Beziehungen.
Einer meiner spirituellen Lehrer, Dr. Vijai S Shankar, pflegte zu sagen:
„to respect is not to expect“, oder auf deutsch „jemanden wirklich zu respektieren bedeutet, keine Erwartungen an ihn zu stellen“.
Ein gewagte These, nicht wahr? Gemeinhin zollen wir jemandem Respekt, wenn er durch eine besondere Leistung hervortritt. Besondere Leistungen sind aber immer an Erwartungen geknüpft und jene Art von etablierten Respektvorstellungen neigt dazu, früher oder später verloren zu gehen, nämlich genau dann, wenn die erwartete Leistung nicht mehr erbracht wird.
Wenn wir aber einmal genauer über „Erwartungen“ nachdenken, tut sich die ganze „Hölle“ unseres täglichen Lebens auf. Unser tägliches Leben wird bestimmt von Wünschen und Erwartungen. Wünsche an sich sind ja nicht schlecht, aber wenn sie andere erfüllen sollen, wird es gefährlich: das sind dann Erwartungen, die oft enttäuscht werden.
Das Wort „Enttäuschung“ drückt aber ja genau aus, was tatsächlich passiert ist: man hatte schlicht falsche Erwartungen an den Anderen und der hat uns nun über unsere eigene Täuschung bezüglich der Dinge aufgeklärt.
Wir verknüpfen unsere Erwartungen oft mit allgemeinen Tugenden: Zuverlässigkeit, Treue, Fleiß, Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit, Bescheidenheit, Zurückhaltung, Bedächtigkeit, Verantwortlichkeit usw…..das ist nur allzu menschlich. Diese Tugenden werden schließlich zu Maßstäben unserer Urteile und Vorurteile.
Was aber hierbei fehlt ist ein tieferes Verständnis, wie derartige Tugenden überhaupt erst realisiert werden können.
Dr. Alireza Nurbakhsh unterscheidet drei Aspekte von „Liebe“, die uns beim Gebrauch dieses Wortes und im Umgang mit dessen Inhalt als Richtschnur dienen können, um unsere persönliche Entwicklungsstufe realistisch einschätzen zu lernen:
Die bedingungslose Natur der Liebe
Die Liebe bei Paarbeziehungen ist i.d.R. immer an Erwartungen geknüpft: behandelt uns die geliebte Person schlecht oder erfüllt sie unsere Erwartungen und Bedürfnisse nicht, neigen wir dazu, uns von ihr zu entlieben. Man hält Ausschau nach jemandem, der unsere Bedürfnisse besser erfüllt. Im Grunde gehen wir mit Beziehungen um wie mit Gegenständen und Bestitztümern: wenn sie in unseren Augen nicht mehr taugen oder keine Wertschätzung mehr erfahren, werden sie ausgetauscht.
Der Gegenentwurf wäre: egal ob der Partner Härte oder Güte zeigt, egal also, welches Verhalten er an den Tag legt, bleiben wir ihm im seinen Wesen verbunden, denn die ursprüngliche Begegnung mit seinem Wesen war es ja, die uns magisch anzog.
Natürlich beruhen viele Begegnungen zunächst oft erst auf Ansehen, Bewunderung, Attraktivität, Vitalität, Begabungen, also äußeren Attributen einer Persönlichkeit. Aber „Liebe“ wäre dann die „innere Begegnung“ mit einem anderen Menschen, die bereits diese Äußerlichkeiten hinter sich gelassen hat.
Die allumfassende, unterschiedslose Natur der Liebe
Bei unserer üblichen Liebe zu anderen lieben wir jene Menschen, die sich um uns kümmern, denen wir uns nahe fühlen. Umgekehrt können wir anderen gegenüber Gleichgültigkeit empfinden bis hin zum Hass.
Der Gegenentwurf wäre: echtes Mitgefühl. Man möchte, dass der Andere glücklich und frei von Sorgen ist, egal ob Freund oder Feind.
Die Selbstlosigkeit der Liebe
Bei gewöhnlicher Liebe ist es üblich, für den Liebenden oder die Liebende, den oder die Geliebte nur solange zu begehren, wie er oder sie die Wünsche und Bedürfnisse des/der Liebenden befriedigen kann. Hier wird der/die Liebende durch das motiviert, was ihn oder sie glücklich macht, nicht durch das, was der / die Geliebte möchte.
Der Gegenentwurf wäre: dem Geliebten wird Vorrang und Wichtigkeit eingeräumt; der / die Liebende möchte nur, was der / die Geliebte möchte.
Fazit
Zugegeben, obige Maßstäbe sind sehr anspruchsvoll. Aber die gute Nachricht dabei ist, dass diese wirklichen Maßstäbe in uns allen eingepflanzt sind und einfach darauf warten, zum Vorschein zu kommen.
Dazu ist nur erforderlich, einmal von sich selbst absehen zu können, die Geschenke des Alltäglichen als solche für sich annehmen zu lernen, statt vor lauter Langeweile oder Stress, Unterforderung oder Überforderung, Boreout oder Burnout die Schuld ständig bei Anderen, den Umständen oder sonstwo zu suchen.
Wie lautet ein weiser Satz:
„LOVE IT - CHANGE IT - OR LEAVE IT!“……ich würde für LOVE IT plädieren, denn „CHANGE IT“ und „LEAVE IT“ führen früher oder später wieder zur Ausgangssituation eines Hamsters in einem Rad zurück.
Damit möchte ich die praktische Relevanz des obigen LCL-Prinzips in bestimmten Situationen des Alltags, z.B. im Beruf, nicht diskreditieren, aber es ist nur ein psychologisches Konzept der Selbstwirksamkeit: es mag manch einem helfen, aus einer erlernten Opferrolle durch eigene Entscheidungen zu entkommen. Es ist aber keine endgültige Lösung des Problems „Mensch sein“.
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