Derzeit trifft sich die NATO in Vilnius und neben allgemein taktischen Bündnisverteidigungsfragen steht natürlich der Krieg in der Ukraine im Vordergrund.
Heute wird auch ein neues Gesprächsformat der NATO eingerichtet: der NATO-Ukraine-Rat. Ein ähnliche Format bestand schon einmal mit Russland 2002 in Rom begründet und ging auf Bemühungen und Zusammenarbeit der NATO mit Russland seit 1997 zurück.
2013 wurde dieses Gesprächsformat bis 2016 wegen der russischen Annexion der Krim ausgesetzt und schließlich mit dem völkerrechtswidrigen Einmarsch Russlands in die Ukraine 2022 hinfällig.
Dieser kleine historische Rückblick widerlegt bereits die vielen antiamerikanischen Theorien, die Putins imperialistisches Handeln als reine Reaktion auf westliches Vormachtsstreben zurückführen wollen: der Westen hat sich seit dem Zusammenbruch der UdSSR um Russland immer bemüht und nicht, wie Sahra Wagenknecht unermüdlich in ihren wöchentlichen Videobeiträgen und in öffentlichen Diskussionen behauptet, die offenen Arme Putins (Bundestagsrede 2001) zurückgewiesen.
Ich hatte vor Kurzem bereits über falsche Narrative einiger westlicher Pazifisten über die demokratische Reife und den Widerstandswillen der Ukraine geschrieben. Heute werde ich weitere, für die Ukraine und uns verhängnisvolle Narrative entkräften.
Es gibt nämlich darüberhinaus noch eine tiefere Dimension, die das Narrativ, Putin reagiere lediglich auf militärisch, wirtschaftliche Bedrohungen des Westens, widerlegen. Diese Dimension möchte ich kurz darstellen, denn sie hat beim neuerlichen „Zögern“, diesmal der USA und ihres Hauptgefolgsmannes, dem deutschen Bundeskanzler Scholz, hinsichtlich der Verweigerung konkreter Beitrittspläne der Ukraine zur NATO in Vilnius, ihre Auswirkungen.
Vor kurzem noch versuchte ein russischer Söldner-Anführer, der für wesentliche Erfolge Russlands in der Ukraine bei Bachmut verantwortlich zeichnete - Jewgeni Prigoschin - Richtung Moskau vorzustossen, aus Enttäuschung über die Führung der offiziellen, russischen Armee. Diese Rebellion wurde von Putin selbst als Putschversuch interpretiert und nach am selben Tag wurde der vermeintliche Verräter Prigoschin von Putin wieder amnestiert.
Diese Situation gibt Aufschluss über das innere Gefüge des gegenwertigen Machtapparates im Kreml. Diese Rebellion erinnert and den August-Putsch in Moskau 1991, als russische Nationalisten und Kommunisten den damals neuen pro westlichen Freiheitstrend in Russland beenden und damit den damaligen Präsidenten Michael Gorbatschow absetzen wollten. Dieser Putsch dauerte nur 3 Tage und führte letzlich zum Zusammenbruch der UdSSR.
Warum sind beide Gegebenheiten so wichtig für ein Verständnis, wofür Putin eigentlich steht und was seine echten Handlungsmotive sind?
Weil damit die falschen Narrative der westlichen Angst vor russischer Eskalation Lügen gestraft werden! Dies wird noch unterstrichen durch die russische Propaganda eines Medwedew und Peskow, die genau diese Angst ständig bedienen.
1991 waren einige Führungspersönlichkeiten in Russland vom neuen, westlich orientierteren Weg eines Gorbatschow, sichtlich beunruhigt. Da gab es einen Wladimir Putin, der damals in der Stadtverwaltung von St. Petersburg beschäftigt war, und der bereits den von Gorbatschow angestrebten, neuen Unionsvertrag, der den Unionsrepubliken der Sowjetunion mehr Macht zugestand, misstrauisch gegenüber stand. Nach dem Oktober-Putsch 1991 kam es also zur Auflösung der UdSSR und spätestens
seit 1994, wenn man dem britischen Historiker Timothy Garton Ash glauben darf, als er von einem Treffen des ehemaligen Bürgermeisters von St. Petersburg, Anatol Sobshak, mit einigen russischen Politikern berichtete, ereiferte sich ein junger Mann mit Entrüstung darüber, dass nach der Auflösung der UdSSR soviele ehemaligen Teilrepubliken (15!) in die Selbstständigkeit entlassen wurden, und damit 25 Millionen Russen heimatlos geworden seien. Dieser junge Mann war Wladimir Putin!
Putins Sorge galt bereits damals also mehr dem inneren Zerfall des Großreiches Russlands unter Moskauer Führung als der vermeintlichen Bedrohung durch eine NATO, die in der Folge regen Zulauf aus den 15 ehemaligen Teilrepubliken erfuhr. Wie oft in der Geschichte werden von Staatsführern äußere Bedrohungsszenarien entworfen um eigentlich innere Konflikte zu befrieden.
Damit erscheinen die ständig vorgebeteten Narrative eines Klaus von Dohnanyi bis hin zu einer Sahra Wagenknecht in einem gänzlich anderen Licht: die Bedrohung des Westens für Putins Russland besteht gerade nicht darin, dass ein westliches „Verteidigungsbündnis“ namens NATO militärisch an die Grenzen Russlands vorrückt - wohlgemerkt durch freiwilligen Beitritt der dort ehemals umliegenden, ehemaligen Teilrepubliken der UdSSR - sondern vielmehr liegt die Bedrohung des Westens für Russland in dessen Idealen selbst, der Freiheit, Mitbestimmung und Rechtsstaatlichkeit. Es ist die Angst vor aus russischer Sicht westlicher Dekadenz: Schwulenehen, Transgender, Gleichberechtigung der Frauen, kurz der sogenannten Queer-Bewegung. Es ist die Angst einer männerdominierten Machowelt vor Machtverlust. Es ist erstaunlich, dass gerade eine Frau Wagenknecht und eine Frau Schwarzer dies nicht wahrnehmen können.
Aber zurück zu den Auswirkungen bei einer westlichen Politik des „Zögerns“, was die Ukrainefrage betrifft.
Präsident Selenskyj ist zu Recht sauer und hält es für absurd, dass die NATO zum jetzigen Zeitpunkt keinen konkreten Zeitplan für einen Beitritt der Ukraine zur NATO vorlegt. Das scheiterte diesmal an den USA und an Deutschland. Man versteckt sich hinter Sicherheitsgarantien, die weder nach 2014 noch 2022 wirklich gegriffen haben.
Selbst bei der Diskussion um effektivere Waffen aus Deutschland z.B. mit dem Maraschflugkörper Taurus, um die ukrainische Gegenoffensive gegen die russische Luftüberlegenheit zu stärken, verweigert sich Olaf Scholz abermals wie bereits früher mit rechtzeitigen Panzerlieferungen.
Das immer wieder verspätete Liefern geeigneter Waffen hat Russland mindestens 6 Monate Zeit verschafft, um diese Verteidigungslinien an den Grenzen zu den besetzten Gebieten erst aufbauen zu können, die aktuell die ukrainische Gegenoffensive extrem erschweren.
Die Fürsprecher derartiger Fehlentscheidungen werden nicht müde, das ängstliche Zögern als umsichtiges Handeln zu verkaufen, um größere Gefahren vom deutschen Volke abzuwenden. Sie sind schlicht der russischen Propaganda aufgesessen.
Wir müssen keine Angst vor einem Atomkrieg oder einem Dritten Weltkrieg haben, wir müssen Angst vor eigenen Politikern und Intellektuellen haben, die permanent Bedrohungslagen falsch einschätzen.
Die Ukraine bindet gerade die kompletten militärischen Kräfte Russlands auf ihrem Territorium, womit keinerlei Bedrohung mehr für angrenzende NATO-Staaten derzeit besteht. Die Ukraine ist damit ein echtes Faustpfand für den Frieden in Europa. Sollte hingegen Putin auch nur eines seiner Ziele mit der Ukraine durchsetzen, ist das europäische Kind in den Brunnen gefallen.
Insofern ist die falsche Doppelbotschaft der NATO aus Vilnius folgende:
Es wiederholt sich der NATO-Gipfel von 2008 in Bukarest, als Frau Merkel und Herr Sarkozy einen von den USA damals gewünschten NATO-Beitritt mit Rücksicht auf Russland verweigerten. Damals ging es auch um die Aufnahme Georgiens - ein paar Monate später erfolgte als Konsequenz dieses Zögerns u.a. der Augustkrieg im Kaukasus:
Der Kaukasuskrieg 2008 war ein militärischer Konflikt im Südkaukasus zwischen Georgien auf der einen und Russland sowie den von Russland unterstützten, international nicht anerkannten Republiken Südossetien und Abchasien auf der anderen Seite. Der Konflikt wurde auf georgischem Staatsgebiet ausgetragen.
Man sieht was geschieht, wenn man auf Russland „Rücksicht“ nimmt, sei es aus Angst oder aus Wohlgesonnenheit.
Die Doppelbotschaft der NATO, bzw. der Verweigerer und Zögerer innerhalb der NATO lautet aktuell:
Signal an Putin: der Westen hat Angst und ist schwach - ein wenig Drohung ist ausreichend um ihn einzuschüchtern.
Signal an die Ukraine: ihr seit zwar wichtig für uns und mutig, aber so richtig alles wollen wir doch nicht für euch tun.
Aber nocheinmal und unmissverständlich an alle jene, die für Frieden plädieren, unnötiges Leiden der Menschen beenden möchten, oder einfach nur ihr gemütlich bürgerliches Leben in Wohlstand und Freiheit weiterleben wollen, für welche der Ukraine-Krieg nicht ihr eigener zu sein scheint, oder sowieso zu weit weg:
In der Ukraine entscheidet sich gerade unser Schicksal als Europäer, nicht nur, ob das ukrainische Volk überlebt. Ein ungebremster Putin ist die eigentliche Gefahr, nicht ein in seine Grenzen verwiesener Putin. Putins wirkliche Ängste sind bereits innerhalb seines Machtgefüges deutlich sichtbar geworden, und sie werden noch sichtbarer werden. Das propagandistische Herunterspielen der Prigoschin-Rebellion, dass inszenierte Feiern der sogenannten Vaterlandsverteidiger, die in Wirklichkeit während des Marsches Prigoschins auf Moskau nirgends erkennbar in Erscheinung traten, ein Putin der sich plötzlich wieder unter das Volk mischt….alles dies sind klare Anzeichen einer Machtverschiebung in Russland.
Die Ukraine muss in die Lage versetzt werden, die russischen Invasoren empfindlich zu treffen, dann erst ist Putin gezwungen, von seinen Zielen abzulassen.
Hierzu muss die russische Luftüberlegenheit mit westlicher Hilfe gebrochen werden, mit Marschflugkörpern größerer Reichweite (z.B. deutsches Taurus System) und zur Not selbst mit Streumunition. Moralisch können sich diesbezüglich nur Menschen zeigen, die sich nicht im Überleben bedroht fühlen. Selbst Bundespräsident Steinmeier akzeptiert die Lieferungen dieser Munition aus Amerika in die Ukraine.
Kommentar schreiben