Ich wundere mich beim Ukrainekrieg immer wieder über die Kritiker aus dem Westen, vorallem von der Seite der Linken, der AfD, unseren ostdeutschen Mitbürgern und anderer intellektuellen Pazifisten im Westen mit ihren Friedensaufrufen, die Waffenlieferungen an die Ukraine zu ihrem Überleben immer wieder in Frage stellen, und mehr Diplomatie anmahnen und einfordern. Ob es sich dabei um sogenannte Putin-Versteher oder Vertreter eines latenten Antiamerikanismus handelt, ist dabei für mich irrelevant. Mich interessieren die Hintergründe einer solchen Haltung.
Auffällig für mich ist dabei immer wieder die Nähe der Argumentation der Kritiker von Waffenlieferungen zu der Argumentation des Kreml selbst: „die Ukraine sei ja nicht komplett ukrainisch, es gibt ja russische Volksgruppen in den aktuell von Russland besetzten Gebieten, die russisch bleiben wollen usw..“.
Nun bin ich auf eine interessante Sendung auf Phoenix mit dem Titel „Nachgehakt“ gestoßen, in der die Politikwissenschaftlerin und Direktorin des Zentrums Osteuropa und intern. Studien, Frau Professor Dr. Gwendolyn Sasse, zum Thema „Lücken und Leerstellen - der unvollständige Blick auf die Ukraine“ Stellung bezieht.
Frau Sasse hat über das Thema inzwischen ein Buch geschrieben: „Der Krieg gegen die Ukraine - Hintergründe, Ereignisse, Folgen“ und beginnt ihre Betrachtung kurz nach dem Zerfall der UdSSR mit der Staatsgründung der Ukraine am 24. August 1991. Dieses Datum und die Umstände dieser Staatsgründung hält sie für einen wichtigen Baustein für das Verständnis, über den die späteren Ereignisse wie die Orange Revolution 2004 und Maidan-Revolution 2013 in der Ukraine eingeordnet werden müssen.
Bei der Orangen Revolution 2004 ging es um Ungereimtheiten bei der Präsidentschaftswahl in der Ukraine. Präsidentenanwärters Wiktor Juschtschenko, dessen Wahlfarbe Orange war, war dem Kandidaten des Oppositionsblocks „Unsere Ukraine“ laut erstem offiziellem Ergebnis der Zentralen Wahlkommission dem offen von Russland unterstützten Wiktor Janukowytsch unterlegen.
In der Folge der Proteste wurde der erste Wahlgang vom Obersten Gericht der Ukraine für ungültig erklärt und eine Wiederholung der Stichwahl angeordnet; bei der Wiederholung der Stichwahl für das Präsidentenamt im Dezember 2004 wurde Juschtschenko zum Präsidenten gewählt.
In der NZZ liest sich die Chronologie der späteren Maidan-Revolution so:
2013 verweigert der ukrainische Präsident Wiktor Janukowitsch unter russischem Druck die Unterschrift unter das Assoziierungsabkommen mit der EU. Vor allem Studenten gehen in Kiew dagegen auf die Strasse.
Die Polizei verprügelt die Demonstranten auf dem Platz der Unabhängigkeit (Maidan Nesaleschnosti). Das harte Vorgehen der Sicherheitskräfte weckt den Widerstand in der breiten Bevölkerung. In den folgenden Wochen finden in der Hauptstadt regelmässige Demonstrationen mit bis zu 800 000 Teilnehmern statt. Sie besetzen dabei auch mehrere Verwaltungsgebäude und fordern den Rücktritt des Präsidenten. Gegen Jahresende flauen die Proteste allerdings ab.
2014: Das ukrainische Parlament schränkt mit einem drakonischen Gesetz die Versammlungs- und Meinungsfreiheit ein. Daraufhin flammen erneut Demonstrationen auf – und schlagen um in Gewalt. Um eine Räumung des Maidan zu verhindern, werden Barrikaden mit brennenden Autoreifen errichtet.
Die Sicherheitskräfte schiessen mit scharfer Munition auf die Demonstranten. Rund 100 Personen werden getötet, knapp 1000 verletzt.
Unter polnischer, französischer und deutscher Vermittlung einigt sich Janukowitsch mit Vertretern der Opposition auf einen Kompromiss: Rückkehr zur parlamentarischen Verfassung von 2004, ein Amnestiegesetz und vorgezogene Präsidentschaftswahlen in zehn Monaten. Die Demonstranten auf dem Maidan aber lehnen das Abkommen ab und fordern Janukowitschs sofortigen Rücktritt.
Janukowitsch verliert den Rückhalt in den eigenen Reihen und vonseiten der Sicherheitskräfte. Er flieht in der Nacht in die Ostukraine und später mit russischer Hilfe von der Schwarzmeerhalbinsel Krim nach Russland. Das Parlament in Kiew wählt derweil eine Regierung und einen Übergangspräsidenten.
Bewaffnete Männer umstellen das Regionalparlament auf der Krim. In einer irregulären Abstimmung wählen die Abgeordneten eine neue Regierung und beschliessen ein Unabhängigkeitsreferendum. Der Kreml setzt russische Soldaten ohne Hoheitsabzeichen ein, um die Halbinsel zu annektieren.
Der russische Uno-Botschafter präsentiert im Sicherheitsrat einen Brief von Janukowitsch an den russischen Präsidenten Wladimir Putin. Darin fordert er den Kremlchef auf, seine Armee einzusetzen, um in der Ukraine wieder für «Gesetz und Ordnung» zu sorgen. Bereits am 1. März hatte der russische Föderationsrat einen Truppeneinsatz in der Ukraine genehmigt. Russland hatte an der Ostgrenze der Ukraine bereits rund 40 000 Soldaten konzentriert und führte Manöver durch.
Von Moskau aus koordiniert, stürmen prorussische Demonstranten im Süden und Osten der Ukraine die regionalen Verwaltungen. Dabei werden auch junge, kräftige Männer in Bussen aus Russland über die Grenze zu den Protesten gefahren. Am 12. April besetzt ein aus der Krim eingesickertes Kommando unter Führung von Igor Girkin, einem Reserveoberst des russischen Geheimdienstes, die Stadt Slowjansk im Donbass. Es ist der Beginn des Krieges in der Ostukraine.
Prorussische Separatisten schiessen über der Ostukraine ein ziviles Flugzeug ab. Alle 298 Passagiere an Bord der MH17 kommen ums Leben. Die Eskalation führt zu einer heftigen internationalen Reaktion. Die USA und Europa verschärften ihre als Folge der Krim-Annexion verhängten Sanktionen gegen Russland, und die Konfliktparteien unterzeichneten in der Hauptstadt von Weissrussland am 5. September das erste Minsk-Protokoll.
Ende der Chronologie der NZZ zur Maidan-Revolte.
Aus dieser Maidan-Geschichte resultiert das russische Narrativ, der Westen habe sich eingemischt und in der Ukraine gegen Russland Stellung bezogen.
Frau Sasse macht deutlich, dass dieses post-sowjetische Kollonialdenken Putins unbewusst auch in die Köpfe westlicher Ukraine-Kritiker eingesickert ist: die Ukraine sei ja instabil, korrupt, vom Westen aufgebaut, und eigentlich doch nicht wirklich ein „souveräner Staat“ in unserem Sinne mit westlicher Demokratie.
Aus einem solchen Denken erwachsen schnell Vorschläge, die Ukraine müsse bei einer militärischen Stagnation der Erfolge bei Verhandlungen doch auf manche Gebiete ihres Territoriums verzichten können, um des lieben Frieden willens - so jedenfalls manche unausgesprochene Hintergedanken westlicher Pazifisten. Das spielt natürlich dem Kreml in die Hände.
Dem setzt Frau Sasse diesen entscheidenden Punkt der Staatsgründung der Ukraine 1991 entgegen: die Bevölkerung der Ukraine wurde zu diesem Anlass nämlich in einem „Referendum zur Unabhängigkeit“ befragt und stimmte mit einer deutliche Mehrheit von 90,3 Prozent für eine Unabhängigkeit. Frau Sasse macht deutlich, dass selbst die Gebiete, die aktuell von Russland annektiert wurden, diesem Referendum seinerzeit zugestimmt haben: die südlichen und östlichen Oblaste mit über 70 Prozent, die Krim mit über 50 Prozent.
Angesichts dieser Fakten ist umgekehrt anzunehmen, dass separatistische Bewegungen in der Ukraine eher von Russlands Seite insziniert worden sind. Man kann also nicht wirklich von einer gespaltenen Ukraine, einer im Inneren schwachen Ukraine, sprechen.
Frau Sasse hebt das westliche Missverständnis hervor, dass es eine pro-russische Haltung in Teilen der Ukraine gegeben habe und gäbe, bis 2019 Präsident Selenski an die Macht kam. Das Narrativ, Teile der Ukraine möchten dem russischen Staat zugehörig sein, wie es später die Seperatistenführer mit Handschlag bei Putin zur Annektion ihrer Oblaste durch Russland glauben machen möchten, ist unzutreffend.
Dass ethnische Gegebenheiten wie die russische Sprache und Kultur in der Ukraine zwangsläufig auch bedeuten, man wolle wieder zu Russland gehören, ist eine westliche Fehlinterpretation.
Laut Frau Sasse spiegeln wir im Westen den kollonialen Blick Russlands auf die Ukraine und vergessen immer wieder das klare Votum der Ukraine selbst seit Beginn ihrer Existenz 1991 für eine Unabhängigkeit.
Die Zweifel an dem Willen zu einer urkainischen Unabhängigkeit machen sich auch fest and der umstrittenen Persönlichkeit eines Wiktor Janukowytsch, gebürtig im Oblast Donezk, im Zeitraum 2004-2014. 2006/2007 war er ukrainischer Ministerpräsident, 2010 wurde er Präsident in der Ukraine und 2014 wurde er vom ukrainischen Parlament im Zuge der Unruhen in Kiew und seiner Flucht für abgesetzt erklärt und das Parlament erwirkte bei Interpol einen internationalen Haftbefehl.
Man sieht, dass zwar immer wieder Machtkämpfe rund um politischen Führungspersönlichkeiten in der Ukraine geführt wurden, die zu Massendemonstrationen führten, aber die Schlussfolgerung, dass im ukrainischen Volk selbst eine Polarisierung in pro-russisch und ukrainisch bestehen würde, ist einfach unzulässig. Sie ist eher eine Spiegelung des post-sowjetischen Kollonialdenkens des Kremls. Ja, die Ukraine hat Korruptionsprobleme, sie arbeitet aber im Rahmen ihres Beitrittswunsches zur EU hart daran.
Es bleibt aber gefährlich, wenn im Westen immer wieder die politischen Vorgänge in der Ukraine bis 2017 Kremllastig relativiert werden und am Ende dann fragwürdige Verhandlungsoptionen in den Köpfen von Pazifisten entstehen, die diese natürlich nicht offen ausdrücken wollen. Da werden dann immer wieder Allgemeinplätze bemüht wie: „Natürlich entscheidet die Ukraine über ihr Territorium, ein Diktatfrieden des Aggressors Putin darf es nicht geben“. Aber gleichzeitig werden Waffenliefrungen hinterfragt, die das einzige Mittel derzeit darstellen, dass die Ukraine überleben kann.
Wenn Selenski nach wie vor klar stellt, dass die Krim zur Ukraine gehört, ist das ein anderes Statement als jenes von Putin, der klarstellt, dass die Ukraine kein eigenes Existenzrecht hat. Hier kann man nun konstatieren, beide Positionen seien festgefahren und verhindern Verhandlungen, aber wie sollte ein Vergewaltigungsopfer mit seinem Peiniger verhandeln wollen und können?
Der Beitrag auf Phoenix:
„Lücken und Leerstellen - der unvollständige Blick auf die Ukraine“
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