„Erleuchtung in einem einzigen Ton“ ist das Motto der spirituellen Praxis des Sui-Zen - blowing the bamboo. Atem wird zu Klang.
Da meine Website unter dem Logo dieses Mottos steht, möchte ich etwas näher darauf eingehen.
Spiritualität war immer ein Thema von mir: die Frage nach den Sinn des Lebens angesichts aller wahrnehmbaren Lebensumstände, seien es glückliche, verzweifelte, hoffnungsvolle, hoffnungslose bei mir und anderen Menschen, werfen die Fragen nach Bestimmung, Vorsehung, Schicksal und Zufall auf.
Ich glaube, ich habe inzwischen alle Hauptreligionen der Welt durch, ebenso wie die wichtigsten psychologischen oder sozialen Theorien. Mit „durch“ meine ich nicht, dass ich am Ende angekommen wäre, eine Antwort parat hätte. Ich meine damit, dass mich mein Forschungsdrang mit allen diesen Wegen intensiv in Berührung gebracht hat und mich dennoch nie hat ankommen lassen.
Wir werden geboren, ohne Macht darüber zu haben, wir werden sterben, ohne Macht darüber zu haben und zwischen diesen beiden Polen der Ohnmacht findet unser Leben statt, in dem wir uns alle mehr oder weniger einbilden, über eine irgendwie geartete Gestaltungsmacht zu verfügen.
Meist belehren uns dann sogenannte Schicksalsschläge eines besseren: warum gerade ich? Warum muss ausgerechnet mir das passieren? Meine Frau Elke und ich haben als Eltern solche Erfahrungen auch gemacht: unser ältester Sohn Levin wäre fast bei der Geburt verstorben, unser jüngster Sohn David erkrankte mit einem halben Jahr schwer an den Folgen einer Polio-Kombinationsimpfung, die ihn auch heute noch an einen Rollstuhl fesselt. Die ersten Jahre waren für David und uns mit umfangreichen Therapien und Arztbesuchen verbunden. Beide Söhne haben aber inzwischen ihren eigenen Lebensweg erfolgreich eingeschlagen, und David hat sein Handicap erfolgreich beim internationalen Rollstuhlrugby eingebracht.
Schicksalsschläge sind von ihrem Wesen her derart, dass wir uns passiv vom Leben geschlagen, ausgeliefert und benachteiligt fühlen, während positive Ereignisse in unserem Leben oft eigener Leistung und Entscheidungshoheit zugeschrieben werden. Natürlich gibt es aber auch jene unter uns, die auch das positiv Widerfahrene demütig und dankbar annehmen und nicht als eigene Leistung betrachten.
Es gibt unter den 10 Geboten des jüdisch-moslimisch-christlichen Glaubens jenes eine siebente Gebot: „Du sollst nicht stehlen“. Und dieses Gebot wird oft äußerlich so interpretiert, dass wir im zwischenmenschlichen Miteinander fremdes Eigentum wertschätzen sollten und uns nichts fremdes Eigentum einfach aneignen sollten. Das ist wohl auch war, aber es geht noch viel tiefer. Es handelt sich nämlich um eine generelle Haltung dem Leben als solchem gegenüber: auf was kann ich auf diesem Planeten eigentlich überhaupt Eigentumsansprüche geltend machen? Auf meinen Körper, auf meinen Intellekt, auf meine Vitalität, auf meine Sensibilität, auf meine Talente und Begabungen? Oder auf meine Bildung und sonstwie angeeignete Fertigkeiten, die mir durch andere Menschen vermittelt wurden?
Der größte tägliche Diebstahl eines jeden von uns liegt darin, dass wir ständig etwas als eigene Leistung deklarieren, ohne dafür wirklich verantwortlich zu sein, ja, überhaupt sein zu können! Es ist die generelle und allgegenwärtige Anmaßung, ständig als Urheber von irgendwas durchs Leben zu stolzieren.
Diese menschliche Eigenart ist tief in uns verankert und hat sich selbst in unseren Rechtssystemen verfestigt: dort wird nämlich gefragt, ob man überhaupt für eine Tat verantwortlich war, bzw. sein konnte, um damit eine Schuldfrage überhaupt verbinden zu können. Schuld und Verdienst sind die Eckpfeiler unserer Moral und Ethik und sie folgen streng dem Gesetz der Kausalität, also des Zusammenhangs von Ursache und Wirkung.
Nun haben Neurologen aber herausgefunden, dass ein körperlicher Handlungsimpuls längst in uns auf dem Weg ist, bevor er sich in unserem Gehirn als Gedanke manifestiert hat. Auch hier scheint es so zu sein: die Handlung geschieht durch uns und kurze Zeit später erklärt unser Verstand die Urheberschaft für dieses Geschehen als eigenes Handeln.
Ich habe mich mit dem Thema monatelang mit einem indischen Vertreter der Advaita Weisheit per eMail auseinandergesetzt, der nicht müde wurde mir zu erklären, dass alles einfach nur geschieht - kein Handelnder, kein Täter, kein Opfer, keine Schuld, kein Verdienst, keine Belohnung, keine Rache, keine Bestrafung, keine Vergebung, keine Vorsehung, keine Verdammung, kein Karma, kein Himmel keine Hölle.
Freilich erinnert das jeden religösen Menschen an Blasphemie und jedem Juristen, Moralisten und Ethiker wäre jegliche Geschäftsgrundlage geraubt.
Aber was wäre, wenn wir einen Augenblick mal innehalten und ernsthaft unsere eigene Logik von Ursache und Wirkung hinterfragen würden? Also unseren ständigen Erklärungsmechanismus in unseren Gehirnen über Vorgänge des täglichen Lebens, die wir bei genauerer Betrachtung keinesfalls beherrschen können, ebenso wenig wie unsere Geburt und unseren Tod?
Wäre ich nie geboren worden, hätte ich weder schuldig werden können an irgendwas, noch mich für irgendwas schämen müssen, noch könnte ich auf irgend etwas stolz sein.
Ein einfacher Praxistest kann das bestätigen: man macht eine Einkaufsliste und schaut nach dem Einkauf in den Warenkorb.
An dieser Stelle scheitert unser Verstand, unser Einredungsmechanismus, wir wären schließlich verantwortlich im Rahmen unserer Möglichkeiten. Aber worin besteht dieser Rahmen dann eigentlich? Dass ich über Dinge entscheiden kann, die in meinem Machtbereich liegen? Was genau ist aber mein Machtbereich, wo beginnt er, wo endet er, wer legt ihn fest?
Ein ganz Schlauer war der Schopenhauer: „ich kann zwar tun was ich will, aber ich kann nicht wollen, was ich will!“ Was bedeutet das für den sogenannten „freien Willen“?
Doch nun zurück zu Ichi On Jubutso - oder die Buddhaschaft in einem Ton. Es macht keinen Sinn zwischen Ton und Tonerzeuger unterscheiden zu wollen, man kann quasi mit einer Hand in die Hände klatschen. Das Leben ist unteilbar eines, mit aller Vielfalt. Ich besitze in Wirklichkeit kein Leben und kann es daher auch nicht verlieren - das Leben besitzt umgekehrt mich und ich werde meine gegenwärtige Form „Mensch“ irgendwann auch wieder verlieren, so wie ich diese Form anfangs für eine bestimmte Periode erhalten hatte. Das Leben von uns allen mit allen Phänomenen ist eine ständige Tranformation von Leere in Form und Form in Leere, oder modern ausgedrückt von Geist in Materie und Materie in Geist.
Das Herz-Sutra:
„Shiki soku ze kū, kū soku ze shiki“, oft wiedergegeben als „Form ist Leere, Leere ist Form“.
Für uns Bambus-Bläser gilt auch das Motto:
„Kein Streben.
Unendliches Gehen.
Kein Anhalten.
Kein Ziel.
Werde wie die Stille des Meeres!“
Ein altes Bild ist jenes, bei dem der Tropfen Wasser im Meer aufgeht: wo bleibt seine Individualität, seine Form? Was bleibt übrig?
Nun mag der Leser zweifeln: und das soll funktionieren? Kein Handelnder, kein Täter, kein Opfer? Was ist dann mit all dem Leid?
Ganz einfach: das Leben funktioniert doch auch gerade in diesem Moment und es hat immer funktioniert, und es wird weiter funktionieren, oder nicht? Milliarden von Zellen in unserem Körper funktionieren im Auftrag des Lebens, ohne unser eigenes Zutun, und sie tun es, bis sie es eben nicht mehr tun. Bakterien und Viren halten unseren Körper am leben, bis sie es nicht mehr tun. Wir unterscheiden zwischen Gesundheit und Krankheit, aber wann genau ist man gesund oder krank? Jeden Tag bilden sich in unseren Körpern Ausreisserzellen, Rebellenzellen, die den Dienst am Gesamtorganismus versagen. Unser Immunsystem vernichtet sie in der Regel, bis die Rebellen die Überhand gewinnen. Wann ist dies der Fall, wann spricht man von der Krankheit Krebs? Unser Verstand ist recht willkürlich in seinen Kategorisierungen.
Natürlich verläuft unser individuelles Leben immer zwischen den Polen Freud und Leid, denn wir verfügen über Vorlieben und Abneigungen. Des einen Vorliebe ist des anderen Abneigung. Die Individualität ist dabei Fluch und Segen zugleich. Ist es einfach nur ungerecht, wenn jemand mehr Leid als Freude erfährt? Gerechtigkeit ist das unsinnige Ansinnen, man könne sich mit anderen Vergleichen und dann Urteile fällen. Ist es ungerecht, wenn ein Beutegreifer sein Opfer verschlingt? Was bedeuten Nahrungsketten in der Natur für unser Gerechtigkeitsempfinden?
Buddha sagte einmal „Leben ist Leiden“ und er meinte unsere Existenzform. Das Anhaften an Dingen und auch an Personen erzeugt die ganze Palette menschlicher Tragödien. Der Mensch liebt Tragödien! Erich Fromm fasst es in die Frage: „Haben oder Sein?“.
Mein Advaita Lehrer Dr. Vijai S Shankar, sagt hierzu klar:
„Es gibt keinen richtigen Weg. Es gibt keinen falschen Weg. Das Leben ist dein Weg.“
Was sollen solche Überlegungen überhaupt nutzen, wenn wir doch alle unsere Rollen in der Dramaturgie des Lebens inne haben? Wenn ich mich in dieser Rolle selbst verliere, beginnen alle Probleme. Es ist die vollständige Identifikation der Leere mit der konkreten Form, in unserem Falle als menschliche Existenz. Wir teilen diese umfassende Existenz mit Mineralien, Pflanzen, Tieren, Mitmenschen aber auch mit Planeten, Sternensystemen und Sonnen, mit kosmischem Staub. Wie sagen Priester bei Beerdigungen so treffend: „Erde zu Erde, Staub zu Staub“ - die Existenz als solche ist nie betroffen, es wandeln sich nur ihre Formen, ihre materiellen Manifestationen. Unser Leid resultiert aus unseren Anhaftungen und damit verbundenen Erwartungen und Hoffnungen.
Aus Hoffnung kann aber auch Gewissheit werden - das nennt man dann Erleuchtung. Gemeint ist damit allerdings nicht die Art von Hoffnung, die unseren kleinen, täglichen Erwartungen an unser Leben entsprechen oder sie enttäuschen, sondern jene Hoffnung, die jeden von uns als unvergänglichen Teil des gesamten Universums versteht.
Die Tatsache das „etwas ist“ und nicht „nichts ist“ ist jene Hoffnung der Liebe die zur Gewissheit werden kann, unbeweisbar, aber erfahrbar.
Kommentar schreiben