Mattias Ruchti hat bereits 2017 für Anvenir Jeunesse, einem think tank for economic and social issues, einen gleichnamigen Artikel über den amerikanischen Politologen Jason Brennan geschrieben, der sich in seinem Buch «Gegen Demokratie – Warum wir die Politik nicht den Unvernünftigen überlassen dürfen» gegen ein allgemeines Wahlrecht ausspricht.
Ich möchte die Thematik heute vertiefen, besonders nachdem ich bereits früher hier einen Artikel über die „Schleichende Abnutzung der Demokratien“ geschrieben habe, Mai 2013.
Es ist offensichtlich, dass in modernen Gesellschaften demokratischer Bauweise zwar zunehmend Wissen berücksichtigt wird, Weisheit aber oft noch zu wünschen übrig lässt. Es wird allgemein auf die Wissenschaft als Heilsbringer vertraut, insbesondere wenn es noch um ungelöste sozial-wirtschaftliche Themen geht, etwa wenn eine FDP darauf vertraut, dass alle vor uns liegenden Probleme, insbesondere im Energiebeschaffungssektor, durch technische Innovationen und den freien Markt schon in naher Zukunft gelöst werden würden - ich nenne das den Glauben an „Daniel Düsentrieb“, der sich in keiner Weise von dem Glauben an einen „Lieben Gott“ unterscheidet. Da wird blind bertraut, dass die Endlagersituation von Atommüll bald gelöst sein wird, entweder dass er technisch so behandelt wird, dass er seine Generationen überdauernde, toxische Strahlkraft verliert, oder sei es, dass man spekuliert, den Atommüll in den Weltraum loszuwerden?
Da wird darauf vertraut, dass bald Fusionsreaktoren heutige Kernreaktoren ersetzen könnten usw.. Mit anderen Worten: eigentlich können wir alle als Verbraucher ruhig so weiter machen wie bis her: aus dem Vollen leben. Das ist die verhängnisvolle, politische Lüge für den Bürger.
Indizien dafür sind das ständige Verschieben und Unterwandern von Maßnahmen gegen den Klimawandel. Das jonglieren mit Zahlen, um uns einzureden, wir machen doch schon so viel, der Rest der Welt ist schlimmer, unser Beitrag wäre ja dann nur marginal - Hauptsache unser Wohlstand bleibt erhalten. Nein! Genau hier müssen wir umdenken. Unser Wohlstand ist einer, den wir seit Jahrzehnten auf Kosten anderer produziert haben. Es ist ein postkollonialer Wohlstand der einstigen Kollonialmächte, der gerade für die bald nicht mehr beherrschbare Zuwanderung von Wirtschaftsflüchtigen eben aus den ehemaligen Kollonialgebieten sorgt. Hier schlägt uns gerade der geballte Unmut von allen Seiten entgegen: die türkischen Mitbürger, die unser Wirtschaftswunder mit gestalteten, wählen vor lauter Enttäuschung über die von ihnen gefühlte Nichtanerkennung ihrer Leistung in Deutschland, für ihr Heimatland lieber eine islamisch- autokratische Vaterfigur. Die afrikanischen Staaten verweigern eine internationale Verurteilung des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine. Indien, das von uns Waffen wollte, die wir aus guten Gründen damals verweigerten, bedient sich diesbezüglich zu 60 Prozent aus russischen Beständen. Klar, dass auch hier keine Verurteilung des russischen Angriffskrieges zu erwarten ist. Zudem signalisiert das Konstrukt der BRICS-Staaten, dass man sich gegen die anachronistische Vorherrschaft der USA und der Leitwärung US-Dollar positioniert.
Wir leben immer noch sehr gut in Deutschland, trotz Inflation: die polnischen Bürger z.B. zahlen doppelt so viel wie wir für ihr täglich Brot. Und Wohnungsnot? Der unerfüllte Wunsch vom Eigenheim im Grünen, mit Sicherheitsabstand zum Nachbarn? Wieviel Gebiete unseres Territoriums wollen wir noch zubetonieren um unrealistische Wünsche zu befriedigen?
Es gibt aber auch die Anderen, die wissen was die Stunde geschlagen hat: Minimalisten werden sie genannt und sie wohnen in Tiny-Häusern. Aber die breite Masse?
Hier haben wir ihn wieder, den Begriff „Masse“, oder sollte ich sagen Quantität statt Qualität?
Die Qualität eines Volkes hängt direkt mit Bildung zusammen. Ich möchte aber Qualität hier nicht auf rein wirtschaftliche Leistungsfähigkeit reduzieren: es geht auch um kulturelle, humanistische und soziale Leistungsfähigkeit. Wer aber nur MINT-Fächer im Bildungssystem in den Vordergrund stellt, wird gerade letztere Fähigkeiten in der Bildung vernachlässigen, mit verheerenden Folgen, wenn die oberflächlichen Früchte dieser einseitig technisch affinen Ausrichtung langsam verblassen. Dann macht uns eben diese Affinität im Namen einer KI oder AI wieder besorgt darauf aufmerksam, dass der gebildet Mensch mehr ist als ein Techniker, ja, dass er dringend mehr sein muss und zwar schon bald!
Doch nun zurück zu jenen, die eine Herrschaft der Wissenden propagieren, also für eine Epistokratie argumentieren.
Brennan teilt die demokratische Wählerschaft eines demokratischen Volkes grundsätzlich in Hobbits, Hoolegans und Vulkanier ein. Er benutz diese drei Metaphern zur Beschreibung des Wahlverhaltens von drei Gruppen in einer Bevölkerung.
Mattias Ruchti zitiert Brennan wie folgt:
„Diese drei Gruppen zeigen unterschiedliches Wahlverhalten und weisen unterschiedlich ausgeprägte soziologische, ökonomische und historische Kenntnisse auf:
Die Hobbits sind die apathischen Wähler. Sie besitzen nur geringes politisches Wissen und haben keine klare, feste Meinung zu politischen Fragen. Dies entspricht dem typischen Nichtwähler. Sie glänzen durch Stammtischgerede, dass eigene Interessen vor alle anderen stellt.
Hooligans dagegen sind die «Sportfans der Politik». Mit klaren und unveränderlichen Meinungen prägen sie den politischen Diskurs. Leider sind sie nicht in der Lage, Fakten, die ihren Ansichten widersprechen, in ihre Überlegungen miteinzubeziehen oder auf alternative Standpunkte einzugehen. Hooligans korrespondieren mit den regelmässigen Wählern oder Parteimitgliedern. Siesind verantwortlich für eine politische Frontbildung.
Zu guter Letzt gibt es da noch die Vulkanier - der Wissenschaftsoffizier an Bord der USS Enterprise, Commander Spok, läßt grüßen. Sie argumentieren in politischen Diskussionen vollkommen rational und wissenschaftlich. Ihre Überzeugungen können sie mit wissenschaftlichen Erkenntnissen belegen und bei Bedarf auch revidieren. Diesen Idealtypus eines Wählers, stellt Brennan fest, gibt es nicht. Dennoch sollten wir versuchen, ihm möglichst nahezukommen.“
Freilich ist die Emotionslosigkeit der Vulkanier nicht unproblematisch, aber sie begründet sich in einer zu einseitigen, technischen Ausrichtung.
Die Idee einer Experten-Diktatur, einer sogenannten Epistokratie (altgriech.: episteme: «Wissen», kratia: «Herrschaft»), geistert bereits seit langem in den Köpfen einiger Denker umher. Bereits vor 2400 Jahren schlug beispielsweise der griechische Philosoph Platon vor, dass der Staat von «Philosophenkönigen» geleitet werden sollte. Er gab diese Idee später freilich wieder auf.
Wir haben in nur knapp 5 Jahren nach diesem Artikel des think tanks, also nach einer Corona Epidemie, nach einer US-Wahl eines Donald Trump, nach den NATO-Blockaden der Türkei und Ungarn gegen Schweden, nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine durch den Autokraten Putin, nach den jüngsten wohlwollenden Äußerungen Chinas zu russlands Feindseligkeiten gegen den Westen ein ernüchterndes Bild über unsere Demokratien erhalten.
Die allgemeine Bevölkerung in den heutigen Demokratien sieht sich ernsten Herausforderungen ausgesetzt, die ein „weiter so“ im Bewusstsein des Normalbürgers nicht zulassen.
Ich sehe folgende Gründe dafür, dass in der Tat Demokratie als Staatsform ins Schlingern kommt:
- Überforderung des Normalbürgers im digitalen Informationszeitalter angesichts KI, Fake-News, also im reifen Umgangang mit Social Media
- ein Datscha-Synrdrom in einer müden Wohlstandsgesellschaft: ich kümmere mich um meine privaten Interessen, die „da oben“ werden schon den Rest besorgen, ich kann da eh nichts ändern - eine schizophrene Trennung von privatem und öffentlichem Leben
- Das Streben nach einfachen Wahrheiten für komplexe Vorgänge - Stammtischgerede, kritikloses Verbreiten von Vorurteilen, die Angst vor Wohlstandsverlust angesichts globaler Krisen (Umwelt, Flüchtlinge etc.)
- Schuldzuweisungen an die jeweils Regierenden, sie würden auf allen Gebieten versagen
Der Auftrieb der AfD in Deutschland, sie schließt in Umfragen inzwischen mit der SPD auf, beweist eindringlich was passiert, wenn die Komplexität und die Häufung globaler Probleme bis in die Alltagswirklichkeiten normaler Bürger durchschlägt: Sorge um höhere Kosten für den eigenen Heizungskeller, Infektionsabwehr mittels Impfkampagnen, Anti-Waffenlieferungsaufrufe angesichts der russischen Bedrohung, Flüchtlingsaufnahmeüberforderung, Verschwörungstheorien und vieles mehr.
Das Deutsche Institut für Menschenrechte (DIMR) sieht inzwischen die Voraussetzungen für ein Verbot der AfD als gegeben an: die Partei gehe "zur Durchsetzung ihrer rassistischen und rechtsextremen Ziele" aktiv und planvoll vor.
Wenn derartige Zielsetzungen einer politischen Kraft in einer Demokratie nicht bekämpft werden, geschieht das, was wir mit der damaligen Wahl eines Donald Trump und der Situation der amerikanischen Republikaner erlebt haben. In kurzer Zeit konnte Trump das internationale Gefüge des Westens per Dekrete zerstören. Und es droht seine erneute Wahl in 2024, wenn sein unredliches wenn nicht gar kriminelles Verhalten gegenüber Frauen, Demokratie und Staat nicht doch endlich zu Verurteilungen und Haft führen.
Nicht nur das demokratische Amerika ist nun polarisiert in Trumpbefürworter und Trumpgegener, auch die Türkei ist polarisiert in Erdoganbefürworter und Erdogangegner und seine Befürworter haben sich für weniger Demokratie und mehr Personenkult und national-islamische Größe entschieden.
Selbst die Bauverbrechen Erdogans, die tausende von Häusern durch das Erdbeben wie Kartenhäuser zusammenfallen ließen, haben seinem Ruf keinesfalls geschadet - Allah sei im gnädig.
Fakten werden ersetzt durch Fake-News und emotionale Sympathien oder Antipathien.
Versuchen wir diese Situationen auf das Bild der Hobits, Hoolegans und Vulkanier zu übertragen.
Die apathischen Wähler ohne großes politisches Wissen und Interesse, die Hobbits also, wählen in unserem Land die AfD, in der Türkei Erdogan und in Amerika Donald Trump.
Die Hoolegans, die amtierenden politischen Lager, verschleißen sich in politischen Grabenkämpfen angesichts dringender, fachlicher Problemstellungen. Bei uns ist die „Ampel“ derart ins Gerede gekommen, dass sie kurz vor dem Aus steht.
Wer aber läßt sich bitte in die Gruppe der Vulkanier einordnen?
Vulkanier sind jene, die durch Bildung, durch Verantwortung für die Allgemeinheit, durch Kritikfähigkeit und Expertentum geeignet sind, die Geschicke eines Volkes zu lenken.
Sie sind weder ideologisch wie die Hoolegans noch apathisch wie die Hobbits und können komplexe Vorgänge verstehen, beurteilen und geeignete Zielvorgaben erstellen und umsetzen. Sie sind keine Fachideoten sondern rekrutieren sich aus einem breiten sozialen Umfeld mit wissenschaftlicher Kompetenz auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens.
Vulkanier leben meist im Verborgenen, sie sind nicht laut wie die Hoolegans und Hobbits. Manche organisieren sich in NGOs (Non Government Organisations). Sie interessieren und engagieren sich vorrangig für das Allgemeinwohl oder sind in sozialen Einrichtungen tätig. Es sind die idealistischen Hungerleider, die sich gegen eine sozial- und umweltgleichgültige Leistungsgesellschaft aufbäumen, die sich von ihren Resourcen aufzehrenden Konsumzielen einfach nicht abbringen lassen möchte.
Wäre eine Herrschaft der Wissenden also sinnvoll? Ich würde sagen: wir brauchen eine Herrschaft der Weisen. Aber wie wäre diese zu organisieren?
Wir erleben in unseren Demokratien derzeit eine Zunahme von Demokratie-Teilhabern statt von Demokratie-Teilnehmern.
Wie wandele ich mich vom Teilhaber zum Teilnehmer? Indem ich wieder Interessen des Allgemeinwohles in den Vordergrund stelle und öfter mal von meinen Privatinteressen absehe. Wie das aussehen könnte, muß jeder für sich selbst entsscheiden. Aber für mich gehört in jedem Fall dazu, dass man das öffentliche Geschehen und die Diskussionen darüber kritisch verfolgt und sich ggf. auch beteiligt, in welcher Form auch immer. Ich schreibe einfach in meinen Blog, wohlwissend, dass die Suchmaschinen im Internet in absehbarer Zeit wohl wenig Interesse an meinen Ergüssen haben werden.
Ich hatte mich auch schon mit dem Gedanken getragen, wenigstens zu den Hoolegans zu wechseln (Die LINKE), aber das gegenwärtige Schicksal der GRÜNEN und der LINKEN lehrt mich, dass es andere Wege geben muss, Wege im Kleinen, nicht allzu laut, schon gar nicht aufdringlich.
Demokratische Wahlen sind zwar notwendig, aber nicht hinreichend für Demokratien. Eine hinreichende Bedingung wäre ein Bewußtsein des Bürgers für allgemeine Belange ohne Blick auf persönliche Interessen.
Wer für Windkraftwerke ist, aber keines vor der eigenen Türe stehen haben will, erfüllt diese Bedingung nicht.
Wer Kernkraftwerke weiter betreiben will, aber kein Endlager im eigenen Land möchte, erfüllt diese Bedingung nicht.
Wer nur Regierungshandeln kritisiert und keinerlei Plan für eigenes Handeln vorlegen kann, erfüllt diese Bedingung nicht.
Wer einfach nur alles blind glaubt und nicht hinterfragt, was seiner eigenen Meinung bereits entspricht, erfüllt diese Bedingung nicht.
Wer in sozialen Medien einfach politische Informationen weiter teilt, ohne sich mit ihnen gründlich beschäftigt zu haben, z.B. i.S.v. einer Quellenüberprüfung, erfüllt diese Bedingung nicht.
Wer Gleichgültigkeit mit Toleranz verwechselt, erfüllt diese Bedingung nicht.
Wer berechtigte Sorge mit Panikmache verwechselt, erfüllt diese Bedingung nicht.
Wer Gewalt verherrlicht und demokratische Staatsgewalt in Frage stellt, erfüllt diese Bedingung nicht.
Wer emotional nur Führerpersönlichkeiten sucht und selbst noch keine selbstbewusste, reife Persönlichkeit entwickelt hat, erffüllt diese Bedingung nicht.
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Sollten diese „hinreichenden“ Bedingung vor Wahlen bei jedem Wahlberechtigen abgefragt werden, oder sollten je nach Erfüllung Wahlstimmen unterschiedlich gewichtet werden? Das wäre eine fatale Illusion, denn wer bitte wäre der Richter über eine korrekte Einordnung des Wählervolkes in mehr oder weniger berechtigte Stimmanteile?
Ich schließe mich also Platon an, der später die Idee der Epistokratie verwarf. Leben wir lieber mühsam in einer noch unreifen Demokratie, die sich in diesen Tagen neuen Herausforderungen im Informationszeitalter stellen muss und sich zunehmend autokratischen Bestrebungen widersetzen muss.
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