Gibt es einen Menschen jenseits des Menschen?

Geschwollen dahergeredet? Nein, nicht wirklich. Während viele darüber nachhirnen, ob es noch weiteres Leben da draußen im Universum gibt, ob es Planeten gibt, auf denen wir mal siedeln könnten, hirne ich jetzt mal darüber nach, wie die Bedingungen auf unserem Planeten so werden könnten, dass wir gar nicht erst die Idee einer „Lebensraumerweiterung“ in das Universum hinein benötigen, und ich bin da aber auch in guter Gesellschaft einiger Wissenschaftler und Philosophen. Fest steht jedenfalls, dass der aktuelle Resourcenverbrauch Deutschlands auf die Welt hochgerechnet bereits drei Planeten Erde benötigen würde. Und da streiten wir noch über soziale Akzeptanz von Notmaßnahmen zur Abwendung der Klimakrise wie den Einsatz von teuren Wärmepumpen, nur weil viele sich das nicht leisten könnten? Ein Blick auf den von Russland angezettelten Krieg und die zerstörten Gebieten in der Ukraine und deren standhafte Einwohner dort könnte uns da wieder ein wenig zurechtrücken.


Richard David Precht, unser moderner Vorzeigephilosoph, schrieb unlängst einen Bestseller : “Wer bin ich - und wenn ja, wieviele?“, auch geschwollen dahergeredet?


Durchaus nicht. Wir kennen aus der Psychologie pathologische Fälle wie multible Persönlichkeiten, Schizophrenie, Borderline etc.., aber was wäre, wenn der sogenannte, selbstbestimmte Mensch mit seinem freien Willen bereits im Normalszustand ziemlich traumwandlerisch unterwegs wäre? Wenn das multible Persönlichkeitsgebilde bereits ein erstes, allgemeines Konstruktionsmerkmal von uns Menschen wäre, eine Startbasis für eine weitergehende Entwicklung? 


Dieser Meinung z.B. war der russische Schriftsteller und Philosoph  Georges I. Gurdjieff und seine Schüler, der russische Schriftsteller P. D. Ouspensky und der englische Psychiater Maurice Nicoll, die im sogenannten „Vierten Weg“ altes Wissen zusammentrugen, mit dem Ziel, den aus ihrer Sicht „schlafenden und mechanischen“ Menschen aufzuwecken. Schlafende Menschen gebärden sich wie Robotter und richten einigen Schaden an, denn sie agieren überwiegend als Reiz-Reaktions-Maschinen. Schauen wir uns unsere Welt heute an, so können wir uns unsere eigene Fassungslosigkeit darüber, was wir in der Geschichte so alles angerichtet haben und noch anrichten können, nicht wirklich verbergen. Wir reden dann von unmenschlichem, barbarischem Verhalten, von Greueltaten, von Genozit, von Massakern und wundern uns, zu was der Mensch fähig ist.


Daher macht es Sinn, darüber nachzudenken, was ein wahrer Mensch eigentlich wäre um dann die Diagnose ziehen zu müssen, dass nur „unwahre“ Menschen zu Dingen fähig sind, die wir eigentlich verabscheuen. Dieser Ansatz zur Problemanalyse ist kritisch, weil wir wie gesagt uns eigentlich bereits als „wahre“ Menschen betrachten - aber es wäre dennoch eine sehr hilfreiche Arbeitshypothese, dies ersteinmal nicht vorauszusetzen.


Richard David Precht hat 2019 in einem Vortrag über „Epochenumbruch und fehlende Verantwortung“ an der Universität Luzern gesprochen und einige gute Punkte gemacht:


Nach seiner Sicht glauben wir nicht mehr an das, was wir wissen, während wir früher nur glaubten, ohne was zu wissen. Er meint mit letzterem die vorindustrielle Phase der Menscheit, also vor der Erfindung der Dampfmaschine, bei der jegliche Macht bei Adel und Kirche angesiedelt war, und der normale Mensch in vollständiger Abhängigkeit von „denen da oben“ sein Leben fristete. Mit der Erfindung der Dampfmaschine entstand dann das Großbürgertum und mit ihm parlamentarische Demokratie, Freiheit, Rechtsstaat, kurz, alles was wir heute für selbstverständlich nehmen - aber hallo, das war gerade mal erst  200 Jahre her.


Mit der Dampfmaschine entstand auch das Gefühl der eigenen Leistung durch die verdiente Entlohnung, die Geburt der Leistungsgesellschaft, die uns heute so heilig ist und uns nur schwerlich über so Dinge wie Bürgergeld etc. nachdenken lässt.


Es erfolgte als 2. Phase um 1900 die Elektrifizierung und damit die Massenproduktion von Gütern und Fließbandproduktion, 1970 die 3. Phase der Mikroprozessortechnologie mit ihren Computern und heute steht die 4. Phase der Digitalisierung an.


Precht fährt in seinem Vortrag fort, dass die erste und die vierte, oder vernachlässigt man die zweite und dritte Phase, die erste industrielle Revolution (Dampfmaschine) und die zweite industrielle Revolution (Digitalisierung) in ihrer Tragweite für die Gesellschaft vergleichbar sind. Die jetzige, zweite Phase wird noch weitreichender für uns sein: sie wirft die Frage auf, ob Demokratien noch funktionieren werden, leistungsgerechte Bezahlung noch funktionieren wird, ob genügend Fachkräfte verfügbar sein werden, ob Wahrheit und Fakenews noch zu trennen sein werden usw. - künstliche Intelligenz läßt grüßen.


Am Beispiel Klimakrise erkennt Precht das grundsätzlich Dilemma des Menschen: wir handeln anders als wir denken und als Grund dafür nennt er die Kognitive Dissonanz, der wir Menschen alle mit Verdrängungsmechanismen begegnen. Er umschreibt dies mit dem Begriff Inkompetenzkompensationskompetenz, oder die Kompetenz, seine Inkompetenzen zu kompensieren.


Warum wir also anders handeln, als wir denken liegt an einer reflexartigen Vermeidung kognitiver Dissonanz in drei Spielarten:


  1. Variante: jemand konfrontiert uns mit etwas, das wir ablehnen - wir entwerten den Überbringer der Nachricht….die sind auch nicht heilig…ich lasse mich nicht moralisieren von jemanden, der auch nicht heilig ist
  2. andere sind schlechter als ich: ich habe bei der Klassenarbeit zwar nur eine drei, die meisten sind aber schlechter…
  3. was kann ich den schon ändern?…


Precht weiter: „Wir sind gute Bilanzfälscher unserer eigenen Buchführung“.


Schöner könnte es auch Gurdjieff nicht ausdrücken: wir lügen nicht nur, wenn wir meinen zu lügen. Wenn ich irgend etwas begründe, mit etwas, dass ich nicht wirklich weiß, lüge ich bereits. Hörensagen ist das meist gebrauchte Begründungsmittel: …ich habe irgedwo gelesen…, die Wissenschaft meint…., ein bekannter Buchautor meint….wie schnell ist etwas behauptet ohne persönliche Verifikation?


Noch schnellter funktioniert das heutzutage über Social Network: ein link über vermeintliche Fakten, die dem eigenen Weltbild in den Kram passen, ist meisst schneller geteilt als sein Inhalt persönlich geprüft. Aber darüber habe ich einen ganzen Aufsatz in diesem Blog bereits geschrieben.


Ohne jetzt christlich oder sonstwie religiös werden zu wollen: hatte Christus am Kreuz an seinen Vater nicht folgende Worte gerichtet: „Herr vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun“? Exakt dies ist das Problem, mit dem wir täglich seit tausenden von Jahren konfrontiert sind: Schlafwandler handeln miteinander und aneinander. Daher der häufige Aufruf in den christlichen Evangelien, jeder möge endlich umkehren und endlich aufwachen aus seinem persönlichen Alltagsschlaf der Komfortzonen. 


Kirchen, Synagogen und Moscheen sind selten ein Ort der „Erweckung“ sondern eher ein Ort der „Einschläferung“ - ganz anders als ihre Begründer es damals eigentlich meinten. Zugehörigkeit soll signalisieren, wir sind die Guten, die anderen sind die Schlechten. Tiefer kann man nicht einschlafen.


Am besten löst man sich von einem persönlichen Auftrag zur eigenen Entwicklung zum wahren Menschen, indem man dies exemplarisch einem Ausnahmemenschen stellvertretend als bereits durchgeführt zuschreibt, an den man nur noch zu glauben hätte, um selbst erlöst zu werden: Stellvertreter über Stellvertreter, der Pfarrer, der Papst, der Rabbi, der Imam…und sie alle genießen ihre ihnen zugschriebene Macht und Authorität bis hin zur Unfehlbarkeit.  


Das sich diese sogenannten, menschlichen Ausnahmeerscheinungen - ob als Gottessohn oder Propheten - selbst nie so verstanden haben und auch nicht verstanden wissen wollten, wird verdrängt.


Aber genug von diesen religiösen Irrtümern als lukrative Geschäftsmodelle.

 

Ja, es gibt ihn, den Menschen jenseits des Menschen. Er ist nur noch nicht geboren. Geboren wird mit jeder biologischen Menschengeburt lediglich das Potential zum wahren Menschen. Es muss eine zweite, willentliche Geburt erfolgen, man spricht auch von Wiedergeburt. Hilfsmittel und Anleitungen hierzu gibt es reichhaltig, im Christentum (die Mystiker, der Vierte Weg), im Islam (der Sufismus), im Judentum (Kabbalah) und im Buddhismus und Hinduismus (Advaita, Zen), in moderner, psychologischer Theologie (Drewermann) und und und. Ich habe nur jene zitiert, mit denen ich mich auch praktisch viele Jahre selbst auseinandergesetzt habe.


Bin ich selbst nun ein wahrer Mensch geworden - der Weg ist das Ziel!

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