Wahlen in der Türkei - demokratisch?

Bei „hart aber fair“ im ARD am 15.5.2023 wurde anläßlich der Wahlen in der Türkei die Frage gestellt „wackelt der ewige Erdogan“?


Wir sehen in der Türkei ähnlich wie in Amerika eine weit fortgeschrittene Polarisierung der Bevölkerung, die sich jeweils an einem Personenkult festmacht, an einer „Führer“-Gestalt. In den USA droht die republikanische Partei vollständig in die Hände eines Donald Trump zu fallen, in der Türkei ist die AKP fest in der Hand Erdogans. Der Name AKP steht für „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ - klingt gut, aber welche Entwicklung ist gemeint, und was wird als Gerechtigkeit verstanden?


Erdogan ist seit 2003 der unangefochtene Führer der Türkei, bis 2014 als Ministerpräsident danach als Präsident, und seit seiner Umwandlung der Türkei in ein Präsidialsystem seit 2018 bis heute als Präsident mit erweiterten Machtbefugnissen. Unter anderem muss ein türkischer Präsident nun nicht mehr seine Beziehungen zu seiner Partei abbrechen, Erdogan kann also seit 2018 als Präsident gleichzeitig für seine AKP tätig sein.


Im Juli 2021 kommt eine bis dorthin als Staatsgeheimnis behandelte Peinlichkeit ans Licht: Erdogan hat sich 2019 einen Palast mit 300 Zimmern und Privatstrand bauen lassen, ein Sommerpalast in der Ägäis in der Ferienprovinz Marmaris - wie es sich halt für einen Präsidenten einer jungen Präsidialdemokratie gehört? 62 Millionen EUR, die wohl besser in erdbebensichere Bauten für seine Bürger investiert worden wären.


20 Jahre an der Macht in einer Demokratie - das sollte eigentlich Kontinuität für ein Land versprechen, aber nur, wenn der Gewählte selbst in seiner Persönlichkeit auch in dieser Kontinuität verweilt. Tut er das aber auch? Angela Merkel z.B. brachte es auf 16 Jahre und verzichtete dann freiwillig auf eine weitere Kandidatur.


Oft sehen Demokratien aus guten Gründen vor, dass Perioden der Wiederwahl eingeschränkt werden, und genauso oft arbeiten manche einmal gewählte Führerpersönlichkeiten daran, diese Einschränkungen für sich und ihre Zukunft zu beseitigen. Jüngstes Beispiel dürfte Putins Russland sein. Von der Demokratie bleibt dann meist bald nicht mehr viel übrig: Unterdrückung der Opposition bis zur Verfolgung, Einschränkung Pressefreiheit und Meinungsfreiheit usw..


Aber zurück zu Erdogan. Ihm ist es offensichtlich gelungen, um sich herum einen Personen- und Führerkult zu etablieren, als der Vater aller Türken. Kein Erdbeben vermag diesen Kult zu durchbrechen, auch wenn das Erdbeben selbst zwar Schicksal ist, nicht aber der Umfang der Zerstörung, die es abermals angerichtet hat: rund 100 Milliarden Dollar Schaden werden geschätzt. 173.000 Gebäude sind betroffen. 184 Menschen wurden seit dem wegen Verdachts fahrlässigen Handelns beim Bau verhaftet, nicht wenige stehen unter dem Schirm Erdogans AKP. Und Erdogan hatte bereits 2019  mit seiner AKP einen „Baufrieden“ bewirkt, eine Amnestie für fehlerhafte Bauten. Eine Ermunterung für Fusch am Bau?


Erdogan verspricht nun ehrgeizig den Wideraufbau in nur einem Jahr, und das bei fast 50% Inflation im eigenen Land. Die einfachen Landsleute können sich bald kein Gemüse mehr leisten, aber auch das tut seiner Popularität keinen Abbbruch.


Wir müssen also woanders nach Gründen für seine Popularität suchen, an seinen politischen Ergebnissen in den letzten Jahren kann es sicher nicht liegen.


Ein wichtiges Merkmal für einen entstehenden Personenkult um einen starken Führer in einem Lande ist das allgemeine Selbstbewußtsein seiner Bevölkerung, ihrer Hoffnungen und Enttäuschungen. Wir Deutschen kennen dies als Kriegsverlierer nach dem Diktatfrieden der Siegermächte von Versailes 1919 nach dem Ersten Weltkrieg. Seine Umstände führten direkt zur Stärkung des Natiomalsozialismus und dann direkt zu Adolf Hitler. Hitler spielte geschickt auf der Klaviatur der verletzten deutschen Seele und eröffnete einen neuen Glanz einer überlegenen, deutschen, arischen Herrenrasse, die beansprucht, sich einen erweiterten Lebensraum im Osten zu erschließen  - wo das alles endete wissen wir nur zu gut. Mit Speck fängt man Mäuse, mit Stolz brave Untertanen.


In Putins Russland dasselbe Spiel: der einfache Russe in seiner Datscha im hintersten Sibirien, der im Winter Not hat, genügend Feuerholz zu organisieren, träumt unabhängig vom weltpolitischen Geschehen und der weitgehend internationalen Verurteilung und Isolierung seines Präsidenten gleichwohl vom „großen Mütterchen Russland“, wie es einmal war und sieht in Putin den fähigen Anführer für dieses Ziel. Putin allerdings benötigt nicht wie Hitler mehr Land, sondern er benötigt mehr Volk, das er nun versucht aus der Ukraine in sein Russland zu deportieren, bis auf jene freilich, die unbelehrbar für Umerziehungslager einem Genozid unterzogen werden müssen.


Donald Trumps Agenda exakt identisch: „Make Amerika great again“…..und das republikanische Volk jubelt. 


Wie klein muss man sich fühlen, um sich so kompromißlos groß fühlen zu wollen? Welche Rolle spielt verletzter Stolz, der aus mangelnder Beachtung oder empfundener Geringschätzung nach seinem grassen Gegenteil schreit?


2.9 Millionen Menschen mit türkischem Migrationshintergrund leben in Deutschland, die Hälfte davon, also ca. 1,5 Millionen haben einen türkischen Pass und dürfen an den türkischen Wahlen teilnehmen. Die Hälfte aller türkisch Stämmigen in Europa, ca. 7 Millionen, leben also in Deutschland. Sind wir Deutschen also mit den Türken in der Vergangenheit falsch umgegeangen? Haben wir in der Vergangenheit an ihrem Selbstbewußtsein gekratzt, als sie noch als sogenannte „Gastarbeiter“ auch für unseren Wohlstand sorgten?  Ich mag das nicht wirklich glauben, angesichts des selbstbewußten Auftretens türkischer Mitbürger in unserer Öffentlichkeit. Unser Staat scheint ihnen europaweit mehr zu bieten als anderenorts, eben offensichtlich auch mehr als die Türkei selbst.


Was mich dann dabei allerdings wirklich wütend macht: sollen in Deutschland lebende Türken wie ihre Landsleute in der Türkei Wählerstimmen tatsächlich abgeben dürfen? Bei einer Demokratie sollten diejenigen, die ihre Regierung wählen, dann auch unter ihr leben: Der Lebensmittelpunkt der Wähler sollte dort liegen, wo die Konsequenzen einer Wahl dann auch gespürt werden. Wie sonst sollte ich sonst wissen, was gut ist für mein Land?


Dass in Deutschland öffentliche Wahlpropagande für  türkische Wahlen inzwischen verboten ist, ist gut so. Sie findet natürlich weiterhin im Verborgenen statt, in Moscheen und Kulturzentren wie ATIB oder DITIB, dem verlängerten Arm von Erdogan in Deutschland.


Wie Graf Lambsdorff bei „hart aber fair“ richtig bemerkte: die Wahl in der Türkei war zwar „frei“, aber nicht „fair“. Was meint das? 


Dazu gehöre zum Beispiel, dass der eigentliche Parteichef der pro-kurdischen Partei HDP, Selahattin Demirtas, seit sechs Jahren unrechtmäßig in Haft sitze oder dass Erdogan fast uneingeschränkte Medienpräsenz in regierungsnahen Sendern genossen habe. Auch die internationalen Wahlbeobachter erkannten einige Unstimmigkeiten bei der Art der Stimmauszählung, wo vorrangig Bezirke mit AKP Dominanz zuerst ausgezählt und die Ergebnisse veröffentlicht wurden, während die Auszählung bei den Wahlgegnern Erdogans mit Beschwerden belegt wurden und somit verzögert gemeldet wurden. Ein psychologisches Spiel, das Erdogan dennoch zunächst die absolute Mehrheit gekostet hat.


Es ist wahr, dass man demokratische Wahlen eines Volkes respektieren muss, man muss aber auch kritisch auf das Zustandekommen der Ergebnisse schauen dürfen. Dass einigen europäischen Regierungen daran gelegen wäre, einen Wechsel der Macht in der Türkei zu erleben, ist kein Wunder, denn Europa benötigt eine demokratische Stärkung, in Zeiten des Krieges in der Ukraine ganz besonders. Europa kann nicht wollen, dass wieder autokratische Tendenzen in seinem Inneren zunehmen, dazu zählt neben Victor Orban  eben auch Recep Tayyip Erdoğan. Beide spielen gegenwärtig auch in der NATO eine zwielichtige Rolle.


Aber, jedes Volk lernt nach seiner eigenen Geschwindigkeit und an den eigenen Fehlern - früher oder später. Gönnen wir Erdogan seinen vermutlichen Sieg in der kommenden Stichwahl. Möge er in der Folge von seinem Volk in der Türkei daran gemessen werden, ob er seine Versprechen wie den Wiederaufbau der vom Erdbeben zerstörten Gebiete innerhalb eines Jahres tatsächlich einhält, und ob das bauliche Ergebnis dann dem nächsten drohenden Erdbeben besser standhalten wird. Die mit dem Baufrieden eingeführte, private Selbstkontrolle der Bauvorschriften dürfte dabei allerdings weiterhin keine gute Idee sein. Europa wird wahrscheinlich bei dem ganzen wieder einen Großteil der Kosten tragen dürfen.