Palmsonntag - oder das Dilemma der Christen und Pazifisten

Heute ist Palmsonntag in der christlichen Überlieferung und vielleicht nur wenige, auch unter den Christen, haben ein klares Verständnis über seine Bedeutung.


Jesus Christus - der Prototyp des neuen, wahren Menschen - zieht auf einem Esel in Jerusalem ein, 6 Tage vor seiner Hinrichtung am Karfreitag. Er wird wie ein König mit wedelnden Palmen empfangen.


Es ist ganz klar ein anderer Auftritt, als wir ihn von Putin und anderen Vertretern von autokratischen Staaten jährlich über uns ergehen lassen müssen mit ihren Militärparaden und der Präsentation von allerlei gefährlichem Kriegsgerät, zur Einschüchterung vermeintlicher Feinde.


Es ist auch ein anderer Auftritt als bei westlichen oder demokratischen Machthabern, die zwar derartige Paraden grundsätzlich auch an Nationalfeiertagen abhalten, selten aber als Schau  militärischer Stärke und als Drohgebärde inszinieren, wenn man einmal von der Militärparade einses Donald Trump 2019 absieht, bei der erstmalig wieder Panzer durch Washington rollten.


Also hier wird in der Tat ein Kontrastprogramm königlichen Verhaltens beschrieben, man könnte auch sagen, das Verhalten eines wirklichen Königs, der sich für wahre Menschlichkeit einsetzt und nicht für ideologische Machtphantasien.


Die Geschichte lehrt, das Gewalt immer Gegengewalt heraufbeschwört, das biblisch Auge um Auge kommt einem da in den Sinn. Dem steht entgegen, dass ein Christ auch die andere Wange hinhalten sollte, wenn er geschlagen wird. Die Bergpredigt erteilt klare Anweisungen, wie die Welt zum Besseren geführt werden könnte, oder vielleicht besser: welche Gesetze dann dort gelten könnten?


Doch wer macht den Anfang, oder wie könnte das denn überhaupt gemeint sein?


Nun ist Jesus selbst im Sinne eines irdischen Handelns gescheitert: er endete am Kreuz durch die römischen und jüdischen Machthaber.


Mahatma Ghandi als herausragender Pazifist ist am Ende aber auch gescheitert, wenn wir das heutige Indien betrachten. Er konnte die britische Knechtschaft zwar abschütteln durch Hungerstreik und zivile, passive Proteste und Arbeitsniederlegungen, er konnte aber die religiöse Spaltung von Hindus und Moslems, die zur Spaltung der Staaten Indien und Pakistan führte, auch nicht verhindern.


Wir können also festhalten, dass weder „Auge um Auge“ noch „die rechte Wange hinhalten“ nachhaltig die Welt verändert haben.


Mir kommt dabei eine Geschichte von Jesus in den Sinn, die Christen und Pazifisten gerne übersehen: „Die Vertreibung der Händler aus dem Tempel durch Jesus mit Gewalt“.


Die Geschichte ist historisch sehr fragwürdig, weil die christlichen Interpreten sie ganz klar im Widerspruch zur Bergpredigt sehen. Was nicht sein kann darf einfach nicht sein. Sollte ein „Erwachter“ nicht frei von jeglicher Gewalt sein? 


Er kann es nur unter seinesgleichen, die Schläfer allerdings muss er aufwecken. 


Wenn der Tempel für das „eigentliche Menschsein“ steht, so können dort Handel Treibende, Alltagsmenschen des Geschäfts und der Ideologie, nur mit gleichen Mitteln vertrieben werden.


Von Jesus wird als 14 Jahriger berichtet, dass er zunahm an Weisheit, Alter und Gnade bei Gott. Für mich ein Indiz, dass er kein geborener, vollkommener Gottessohn war und sein wollte, im Gegenteil: er war ein Mensch in Entwicklung, einer der als Prototyp und als vielleicht erster seiner Spezies diese Entwicklung zum wahren Menschen abschließen konnte. Ein wahrlich Erwachter, aufgeweckt aus dem Schlaf, in dem sich auch seine Jünger sprichwörtlich in Gethsemane noch befanden, als Judas in für 30 Silberlinge an die jüdische Gerichstbarkeit verkaufte, weil er eben nicht für Militärparaden und eine militärische Vertreibung der Römer aus Palästina stand. Als ein Jünger das Ohr eines römische Soldaten zu seiner Verteidigung abhieb, brachte er es wieder an: ein Bild, wie mangelndes Zuhören manchmal drastisch wiederhergestellt werden muss. 


Jesus wollte nie eine Schar von religösen Vertretern seiner selbst auf dieser Erde installieren, er wollte, dass jene, die mit ihm in Kontakt waren, ihm wirklich nachfolgen sollten, es ihm gleichtun sollten. Oft genug verzweifelte er am Versagen seiner Jünger, es ihm gleichzutun. Nachfolge bedeutete für ihn nicht abstrakt Anbetung seiner selbst (..was nennts du mich gut..?), sondern eine persönliche Nachfolge mit Herz, Verstand und mit Taten. Echte Nachfolger sind ausnahmslos alle „Kinder Gottes“, da braucht es nicht nur „einen herausragenden Sohn“ als Stellvertreter Gottes auf Erden. Und es braucht keine Kirche wiederum mit Oberhäuptern, als Stellvertreter Christi. Ich bin mir sicher, Jesus würde sich im Grabe herumdrehen ob der heutigen Machtorganisationen in allen Religionen. Mohammed und Buddha würden es ihm gleichtun. 


Übertragen wir dieses biblische Bild eines Kontrastes von „Schlafenden und Erwachten“, ein Hauptthema des neuen Testaments, in unseren Alltag. Was wenn unter Schlafenden andere Gesetze gelten sollten wie unter Erwachten? 


Am Teich von Bethesda, den fünf Säulenhallen, scharten sich zu biblischen Zeiten Kranke, Lahme und Aussätzige, nur um dort zu warten, bis ein Engel das Wasser bewegt, um dann als erster im bewegten Wasser geheilt zu werden. Diese 5 Säulen als Metapher unserer 5 Sinne und die solcher Art ausgestatteten Durchschnittsmenschen als „Schläfer“, die sich dort ansiedelten und auf Heilung hofften, untätig und auf Hilfe angewiesen, wurden von Jesus zum eigenen Handeln aufgerufen. Eine Szene, die später als Heilungswunder in die biblische Geschichte einging.


Auge um Auge“ ist das Gesetzt für Schlafende, „die rechte Backe auch hinhalten“ das Gesetz für Erwachte.


Jede Ideologie verwendet eine Unterscheidung zu ihrer eigenen Rechtfertigung: wer mit uns ist, ist „Mensch“, wer gegen uns ist, ist „Tier“, und Tiere kann man abschlachten. 


Inzwischen haben wir aber auch unser Verhältnis zu den Tieren überdacht, Gott sei Dank, aber die Unterteilung in Mensch und Nichtmensch oder Unmensch findet gleichwohl weiterhin statt. Die Nazis entwickelten den Begriff „unwertes Leben“, das man einfach in großen Gaskammern vernichten kann. Putin, der angeblich gegen ukrainische Nazis kämpft, scheut nicht das menschenverachtende Opfern von eigenen Landsleuten als Kanonenfutter an der ukrainischen Front für seine eigene Machtphantasie. Die USA haben im Vietnamkrieg nicht gescheut, ihre eigenen jungen Menschen im fremden Dschungel zu verheizen. Noch heute begeht eine zweistellige Anzahl an Kriegsveteranen pro Tag in den USA Selbstmord.


Die Botschaft Christi ist für mich ein Aufruf an uns Noch-Nicht-Menschen, endlich Menschen zu werden: von Schläfern zu Erwachten zu werden. Dass ist aber ein individueller, persönlicher Weg. Wenn solcher Art Erwachte eine kritische Masse auf dieser Erde erreicht haben, dann ist die Zeit der „Schwerter zu Pflugscharen“ tatsächlich gekommen - aber erst dann!


Eugen Drewermann, von dem ich viel gelernt habe und den ich sehr verehre, hat sich u.a. in einem Artikel geäußert, dass Kein Krieg gerechtfertigt ist:


„Kein Krieg ist gerechtfertigt“


Ich teile seine Meinung wie die aller anderen Pazifisten, die vom Ekel des Krieges angewiedert sind. Ich teile die pazifistische Gesinnung. Aber ich bin der realistischeren Auffassung, dass schlafenden Menschen, die Unheil anrichten, nicht nachgegeben werden darf. Sie verstehen die Botschaft einfach nicht. Man kann auch nicht Autokratien per Waffengewalt oder Umsturz in Demokratien verwandeln. Das sind alles Prozesse, die einer bestimmten Zeitqualität folgen, und diese fordert leider ihre Opfer, bis ein Aufwachen erfolgt.


Der „erwachte König der Palmen“ kann erst nachhaltig einziehen in sein eigenes Reich, wenn die Schläfer in diesem Reich aus ihrem eigenen Albtraum erwacht sind. Ein Albtraum ist eine Angsttraum und Angst herrscht nur in einer unerwachten Welt. Es nutzt überhaupt nicht, Putins Ängste als real von der NATO geschürt zu betrachten, wenn man den von ihm konsequent seit 1989 verfolgten Revanchismus betrachtet. Es nützt auch nicht ihm Angebote zu Waffenstillstand und Frieden zu unterbreiten, die er einfach nicht möchte, solange er und seine Gefolgsleute noch schlafen und von einer Reinstallation eines russischen Großreiches träumen.


Erst muss er geweckt werden, er muss begreifen, dass die Mechanik von gewaltsamen Überfällen auf Nachbarn auch reflexartig mit militärischer Gegenwehr geahndet werden, mit der er in diesem Umfang freilich nie gerechnet hat. Aber nun hat er sein Gesicht bereits verloren, und wir können daran auch nichts mehr ändern. Das sind die Lektionen der Geschichte für schlafende Menschen und jener, die den Traum der Macht mit ihm träumen.


Palmsonntag ist also das Bild einer friedvollen Zukunft, in der Gesetze von reifen Menschen für reife Menschen gelten. Der Karfreitag allerdings steht für die Phase, die bis zu jenem Zeitpunkt durchlaufen werden muss: ein jeder trage sein Kreuz bedeutet nicht, sich selbst auszuliefern, oder wie im Falle der Ukraine sogar andere auszuliefern durch Vermeidung von Waffenlieferungen, sondern sich den Gesetzen des Alltags zu stellen, bis bessere Zeiten angebrochen sind. 


Das Gesetz des Alltags in Zeiten eines gewaltsamen Überfalles eines Staates ist Notwehr mit allen Mitteln und das christliche Gebot ist das zur Seite stehen des Überfallenen in jeder Hinsicht. Ein Angreifer darf nicht in seinem Tun bestätigt werden, im Gegenteil. 


Auf Hitler wurden 42 Attentate erfolglos ausgeübt. Wie stehen Christen zu diesen Attentaten angesichts des biblischen Gesetztes „Du solltst nicht töten?“. Hätten diese nicht versucht werden sollen? Sind sie Gott sei Dank nicht geglückt?


Es gibt in der Bibel keine „einfachen“ und wortwörtlichen Handlungsanweisungen, wie es immer noch bei manchen Glaubensgemeinschaften verstanden wird. Einfache Anweisungen für einfache Menschen, komplexe Anweisungen für komplexe Menschen. Eine Demokratie ist komplexer als eine Autokratie. Das Leben entfaltet sich aber von einfachen zu komplexeren Strukturen. Wer sich diesem Prinzip des Lebens entgegenstellt, wird am Ende auf der Strecke bleiben.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0