Maischberger: Gerhart Baum vs Sahra Wagenknecht

Sehr geehrte Sahra Wagenknecht,


Sie haben gestern im Streitgespräch bei Maischberger mit Herrn Baum vehement einen pazifistischen Standpunkt gegen Waffenlieferungen in die Ukraine eingenommen - Ihr gutes Recht!


Ich habe immer Ihren scharfen Verstand, Ihre Expertise und Kompetenz in Wirtschaftsfragen und sozialen, globalen Abläufen bewundert, sei es Ihre fundierte und berechtigte Kapitalismuskritik, Ihre Kritik am westlichen Imperialismus und die mit ihm verbundenen politischen Fehler des Westens gegenüber dem Osten.


Dennoch erlauben Sie mir bitte ein paar Aspekte hervorzuheben, die Sie bei dem Ukrainekrieg offensichtlich bewusst oder unbewusst verdrängen, leider:


  1. Verhandlungen von Kriegsparteien setzten echte Verhandlungsbereitschaft der Kriegsparteien voraus. 


Ihre Interpretation der Gegebenheiten zu Gunsten einer ernsten Verhandlungsbereitschaft Russlands kurz nach Beginn des Krieges, und die scheinbar

kriegstreiberische Intension bestimmter westlicher Verbündeter ist unzutreffend. Wenn Sie aber schon über Intensionen westlicher Politiker spekulieren möchten, sollten Sie das auch über Putins Intensionen tun - hierzu schweigen Sie aber beharrlich.

Damit erteilen Sie Ihrer Expertise einen Bärendienst.


  1. Sie leugnen mit Ihrer strikten Antiwaffenhaltung die Notwendigkeit eines „wehrhaften“ Pazifismus


Im Gegenüber eines Despoten, und Herr Putin ist zumindest in den Augen der „freien Welt“ offensichtlich einer und eben kein Opfer eines vorausgehenden westlichen Imperialismus, wie er sich auch selber begreift, ist ein Verhalten beherzten Widerstandes zur Not auch mit Waffen unverzichtbar: menschenverarchtende Gewalt darf nicht Recht bekommen, auch nicht, wenn sie gar von einer ebensolchen, vorausgehenden verursacht worden wäre.


Mit die „freie Welt“ meine ich jene Staaten, die nach dem aktuellen Demokratieindex zu den vollständigen oder unvollständigen Demokratien gerechnet werden, eine Minderheit auf der Welt zwar, aber eine, zu der ich jedenfalls stehe. Es sind also keine hybriden Systeme oder gar autoritäre Regime damit gemeint. Sie wähnen Brasiliens neuen Präsidenten Lula argumentativ an Ihrer Seite, Repräsentant einer unvollständigen Demokratie, die wir inzwischen unter Bolsonaro genießen durften…ein weiterer Bärendienst für globale Problemlösungen.


Die Welt ist seit dem 24.2.22 wieder offiziel durch Putin deutlich bipolarer geworden, was auch sein erklärtes Ziel war:


Demokratien, die Individualrechte höher werten als Kollektivrechte vs Autokratien, die Kollektivrechte einiger Weniger höher werten als Individualrechte der Masse. Ich rechne mich zu ersteren, und Sie?


Putin begreift erstere nicht nur als Schwächlinge, er verarchtet sie sogar!

Was Menschenleben für ihn bedeuten ist zumindest mir nicht nur erst seit dem Ukrainekrieg bewusst geworden.


Mit sojemanden können Sie sich tatsächlich Verhandlungen vorstellen, die nachhaltig für Waffenruhe oder gar Frieden sorgen könnten? Da scheint dann Ihre psychologische Expertise doch nicht ganz ausreichend zu sein, bzw. eine solche scheint überhaupt nicht in Ihrem persönlichen Fokus zu liegen?


Verhandlungen von Kriegsparteien, so lehrt die Erfahrung, funktionieren in einer festgefahrenen Situation erst, wenn beide Kriegsparteien zur Überzeugung kommen, sie können nicht mehr gewinnen - wobei „gewinnen“ für die Ukraine was anderes meint als für Russland. Für die Ukraine meint es überleben in Freiheit nach einem aggressiven Überfall eines Nachbarn. Für Putin meint gewinnen aber: kein Gesichtsverlust und das Behalten der völkerrechtwidrig annektierten Gebiete, die er übrigens nach geltender eigener Verfassung so einfach gar nicht mehr „zurückgeben“ kann, selbst wenn er wollte - aber er will ja auch nicht, im Gegenteil. Und er will weiter arbeiten an seinem neuen postsowjetischen Reich - ob das seine „Brudervölker“ selber auch wollen oder eben nicht.


Putin wird nicht müde offiziell bei jeder propagandistisch verwertbaren Gelegenheit sein rückwärtsgewandtes Geschichtsverständnis eines „starken Russlands“ oder der „slavischen Überlegenheit“ über den in seinen Augen degenerierten Westen zu präsentieren. Ein derartiges Ausmaß an Propagande bis hin zu Zwangsmaßnahmen im und am eigenen Volk konnte ich beim westlichen Imperialismus jedenfalls so noch nie beobachten - Sie vielleicht? 


Kürzlich beging er den 80. Jahrestag des Sieges der Sowjetarmee über Nazi-Deutschland - übrigens gehörten zur Sowjetarmee damals auch ukrainische Soldaten - mit Vergleichen, die jeden aufgeklärten Menschen eigentlich erschauern lassen. Sie hingegen relativieren im Streit mit Herrn Baum, der ja echte Gefühle der Verbundenheit mit dem wirklichen Russland hegt, selbst die Absichten eines ums Überleben kämpfenden Landes, indem Sie der Ukraine eine ähnliche Korruption der Eliten im Ausmaße der  in Russland bekannten vorwerfen - für meine Begriffe ein grasser Fehlschritt Ihrer Argumentation. In der Ukraine wird gerade Korruption geahndet um europäische Beitrittsbedingungen zu erfüllen. Auch ein Selenski ist seit dem Krieg nicht mehr derjenige, der er vor dem Krieg mal war - wohl aber ist ein Putin noch immer der gleiche patriarchalische Macho, der er bereits als Jugendlicher in den Leningrader Hinterhöfen war: es galt und gilt das Recht des Stärken. 


Die aktuellen Umfragen bei der ukrainsichen Bevölkerung zur Kriegssituation ziehen Sie auch noch ernstlich in Zweifel, nicht aber die wirklich fragwürdigen Abstimmungen in den scheinbar prorussischen Gebieten, die zur Annketion führten. Es schmeckt für mich doch sehr danach, dass auch Sie nur Abstimmungen akzeptieren, die Ihrem ideologischen Leitbild entsprechen.


Sie als Frau, für mich völlig unverständlich, haben das offensichtliche Macho-Verhalten des Kremels überhaupt nicht im Blick - sie sehen nur einseitig die Fehler des westlichen Imperialismus der Vergangenheit - schade eigentlich. Haben Sie mal die Frauenquoten in westlichen Parlamenten mit denen der Duma verglichen? Wird Ihnen da nicht Angst und Bange? Kämpfen Sie vielleicht doch an der falschen Front?


Dieser westliche Imperialismus war aber nicht wirklich schuld an einer krankhaften, narzistischen Entwicklung eines späteren KGB-Agenten, der sich bei seinem KGB-Kumpel, dem Moskauer Patriarchen Kyrill, auch noch orthodoxen Beistand für seine verdrehte Weltsicht holt. Und: haben Sie schon einmal Streitereien in westlichen Parlamenten verfolgt und diese mit jenen verglichen, die gerade in der Duma und dem Staatsfernsehen in Russland zelebriert werden, mit ihren Zerstörungs- und Hassfantasien gegenüber westlicher Lebensweise und westlichen Vertretern der Politik?


Dies alles im Blick: wie kann man da die eigentlichen Gefahren so beharrlich verdrängen wie Sie es tun? Angst vor Weltkrieg und/oder Atomkrieg wegen westlicher Waffenlieferungen? Angst vor dem Ausbreitungsdrang eines Putin wäre m.E. angemessener und realitätserpropter. Putin geht es um Gebietsgewinne der alten UdSSR, gar nicht so sehr um Erweiterung seines Staatsvolkes um ethnisch Gleichgesinnte - das jedenfalls lehrt das  brutale Vorgehen gegenüber der ukrainischen Zivilbevölkerung und gegenüber seinen eigenen Soldaten, die einfach an der Front geopfert werden und durch gekaufte Söldner der Wagner-Gruppe. Kann man das alles tatsächlich ignorieren und dafür dem Westen die Schuld geben?


Selbst wenn das durch den Kremel geschundene Volk der Ukraine sich auf einen Frieden mit Gebietsabtretungen einlassen würde, wie lange würde man auf den nächsten Überfall dieser Unmenschen im Kremel dann warten, nochmal 8 Jahre?


Ja, es ist unerträglich, das tägliche Sterben im Ukrainekrieg, für jeden, nicht nur für Sie - noch unerträglicher aber ist, dass diese Quelle der Zerstörung, der Kremel nämlich, am Ende abermals recht behalten soll durch diplomatische Zugeständnissse des Westens. Diese Botschaft wäre fatal für die moderne Welt: sie würde alte, vorzivilisatorische Gepflogenheiten wieder offiziell etablieren, bei denen selbst Sie als Intellektuelle, sich aktuell noch auf einem sicherem Territorium für Ihre intellektuell hochgeistigen Ergüsse über einen wahren Pazifismus Befindende, noch in Verzweiflung geraten würden, wenn Verhandlungsergebnisse so eintreten sollten, wie Sie sie sich wünschen. Freilich: man kann lapidar sagen, die Ukraine soll nicht kapitulieren, aber man kann auch darüber schweigen, was ein Schweigen der Waffen im gegenwärtigen Zeitpunkt bewirken würde und darüber hinaus in der Zukunft.


Aber gut - jeder hat das Recht auf seine Meinung. Nur inzwischen habe ich an Ihrer Reflektionsfähigkeit auf manchen Gebieten meine Zweifel bekommen. Vielleicht folgen sie doch mehr einer ideologischen Überzeugung, die den gesunden Menschenverstand eher in der Schublade lässt.

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