Zeitenwende und bipolare Welt - eine Analyse und mögliche Schritte

Was meint Bipolarität?


Die eigentliche Zeitenwende besteht darin endlich erkannt zu haben, dass wir uns nach wie vor in einer bipolaren Welt befinden, oder einfacher ausgedrückt: es gibt Menschen, die das Individuum höher werten als das Kollektiv, und jene, die das Kollektiv höher werten als das Individuum.


Paradoxer Weise neigen gerade letztere dazu, dennoch einzelne Individuen in Form von autoritären Führern zu generieren, die mit exklusiv nur sich selbst zugestandenen Individualrechten die Masse beherrschen dürfen. Und die betroffene Masse ihrerseits fügt sich gerne oder brav ihrem Schicksal - weil sie es nicht besser weiß oder falsch informiert wird, kleinere Gruppen oft aber auch, weil sie einen persönlichen Gewinn daraus ziehen können, wie z.B. bestimmte Oligarchen, oder aber auch Regimebeteiligte in Politik und Militär aus schlichter Überlebensangst. Ein Beispiel mag der Umgang Putins mit seiner Militärführung und den Führern der Geheimdienste sein: da werden Generäle und Geheimdienstchefs als dumme Jungens vorgeführt und dennoch regt sich kein innerer Widerstand in den militärischen Führungsebenen.


Ein System aber, das auf Falschinformation und Angst beruht lehrt die Geschichte, kann nicht von Dauer sein.


Es gibt natürlicher Weise immer Menschen, die selbst gestalten und verändern wollen, und es gibt Menschen, die eher fertige und verlässliche Strukturen benötigen, denen sie sich unterordnen können und wollen. Psychologen sprechen auch von intrinsicher und extrinsicher Motivation.


Am Beispiel Russland können wir z.B. gut erkennen, wie die Masse, gelenkt durch eine manipulierte restiktive Informationspolitik, gerne dazu bereit ist, idealistischen Zielen einer kleinen Machtclique zu folgen, wenn nur ihr kleines privates Leben von Konsequenzen unberührt bleibt. Man kann so bei allen wirtschaftlichen und sozialen Missständen, die jetzt erst recht durch eine Kriegswirtschaft zunehmen werden, endlich wieder an ein großes Russland glauben und sich dadurch selbst wieder groß fühlen. Dass diese Größe durch Gewalt erzwungen werden soll und daher ihren Preis hat, will der einfache Mensch nicht wahrhaben. Erst als Putin seine Teilmobilisierung ausrief, und das einfache Volk plötzlich in seiner heilen Welt Opfer bringen muss für die Machtphantasien einer kleinen Kremel-Clique, regte sich etwas Widerstand. Es wird nicht bei der ersten Mobilisierung bleiben - die Angst des russischen Volkes ist begründet. 


Die weniger „einfachen“ Menschen in Russland, diejeneigen also, die kreativ gestalten wollen, und zwar im täglichen Leben und nicht an Kriegsfronten, die Intellektuellen also, haben längst das Land verlassen. Es bleiben die Machtbesessenen und die Parasiten zurück, die immer schon auf Kosten anderer gelebt haben. Beste Voraussetzungen für einen Pariastaat.


Kollektivismus vs. Individualismus


Diese Bipolarität in der gegenwärtigen Population der Menschen auf der Erde ist ein Fakt und die Versuche der 

„Individualbefürworter“, ihre Idee von Demokratie, Freiheit und Menschenrechten in der Welt zu verbreiten, stößt auf Grenzen: man kann niemanden wirklich zu etwas zwingen, das aus freien Stücken gewollt werden möchte und für das man über eine bestimmte Reife verfügen muss. Die „Kollektivbefürworter“ hingegen setzen meist immer und nur auf Zwangsmaßnahmen jeglicher Form.


Der Drang nach persönlicher Freiheit und der nach sozialer Bindung spiegeln am Ende immer auch einen Interessenkonflikt zwischen Individuum und Kollektiv, der mit komplexen Gesetzeskonstrukten einhergeht: Strafrecht gegen Übergriffe des Individuums, bürgerliche Abwehrrechte gegen Übergriffe des Staates etc..


Ich werde die „Individualbefürworter“ fortan auch als „westlich“ Orientierte und die „Kollektivbefürworter“ als „östlich“ Orientierte bezeichen, wohlwissend, dass dies sehr plakativ ist.


Machtphantasien entspringen meist Ohnmachtsgefühlen.  Wir können uns im Westen natürlich fragen, was wir falsch gemacht haben mit einem Putin, und das tun gerade unsere westlichen intellektuellen Kritiker auch ausgiebig, die ohnmächtig und beharrlich, aus der Idee der Gewaltlosigkeit heraus, Verhandlungsbestrebungen über eine Kriegsunterstützung setzen. 


Wir könnten aber auch erkennen, dass wir ihm, Putin, nichts jemals hätten recht machen könnten und auch nicht können werden - und ich füge hinzu: wollen dürfen! Im Falle von Putin sollte allen bewußt sein, dass in der Tat jede Position, die auf einen Waffenstillstand oder gar Frieden mit ihm spekuliert, der auf territorialen Zugeständnissen von Gebieten der Ukraine an ihn, die er sich rechtswidrig angeeignet hat, beruhen, seinen Appetit auf ein „weiter so“ bestärken werden: er wird rücksichtslos versuchen, sein Staatsgebiet weiter auszudehnen - ohne Rücksicht auf irgend ein Menschenwohl, einzig seiner vorgestrigen Ideologie folgend, das Russland wieder das sein sollte, was es in seinen Augen einmal war.


Diese bipolare Welt wird z.B. auch im aktuellen Demokratieindex beschrieben. Dort werden 5 Bewertungsmerkmale beschrieben, nach denen 169 Staaten jedes Jahr in 4 Gruppen eingeteilt werden:


  • Vollständige Demokratien
  • Unvollständige Demokratien
  • Hypridregime
  • Autoritäre Systeme


Schaut man sich die Liste an, bekommt man  ein reales Gefühl dafür, wie weit es mit demokratischen Bestrebungen auf der Welt tatsächlich bestellt ist.


Die Öffentlichkeit ist ja regelrecht erschrocken, als man auf der Suche nach alternativen Energiequellen gerade bei jenen fündig wurde, denen man nach westlichen Wertemaßstäben eigentlich nicht die Hand zu Geschäften hätte reichen dürfen. 


Die Argumente, dies dennoch tun zu müssen: Diversifizierung und Übergangslösung. Das meint, man macht sich nicht mehr nur von einem „Schurkenstaat“ abhängig, sondern von vielen, dann kann es schon nicht wieder einmal so schlimm werden mit der Energieabhängigkeit und Erpressbarkeit. Was aber, wenn diese „Schurkenstaaten“ in Zukunft gemeinsame Sache machen wollen? Nun gut, dagegen hilfte die angestrebte Unabhängigkeit von fossilen Energien, die zukünftig energetische Selbstversorgung der Staaten oder Bündnisse also. Damit wird gleichzeitig der positive Druck auf eine rasche Umstellung hin zu erneuerbaren Energien erhöht, aber es müssen auch moralisch peinliche Übergangslösungen in Kauf genommen werden. 


Aber es wird nicht nur beim Umgang mit Energie so bleiben: Überprüfung kritischer Lieferketten unter dem Gesichtspunkt politischer Abhängigkeiten. Die bisherige Globalisierung erfährt also zunehmend ihre Grenzen aus Befürchtungen der Erpressbarkeit heraus.


All dies wird an der naturgegebenen Bipolarität nicht viel ändern, denn Sebstbestimmung und Fremdbestimmung werden als Pole vermutlich nie restlos überwindbar sein. 


Auch demokratische Modelle werden immer wieder an ihre Grenzen stoßen, je größer die Flächenstaaten sich gestalten, oder je mehr Nationalstaatsgrenzen bei politischen Bündnissen einbezogen werden müssen - die EU sei als Beispiel genannt. 


Mit zunehmender Anonymisierung der staatlichen Gewalt durch Vergrößerung eines Gemeinwesens und fehlenden, verlässlichen  Informationsstrukturen bei gleichzeitiger Überforderungen der Bürger mit der zunehmenden Informationsflut, die sich immer weiter vom eigentlichen Alltagsbedarf entfernt, wird man von imanenten, kritischen geopolitischen Grenzen eines demokratischen Gemeinwesens reden dürfen. 


Dasselbe gilt aber natürlich auch für autokratische Systeme: in der Geschichte ist jede Gewaltherrschaft mit zunehmender Ausbreitung irgendwann zusammengebrochen.


Halten wir fest: es gibt natürliche Grenzen der Regierbarkeit eines Gemeinwesens, egal ob demokratisch oder autokratisch, die durch die Größe, die Struktur und dem Entwicklungsgrad der Bevölkerung festgelegt werden.


Wertebasierende vs. Interessenbasierte Politik


Jedem ist glaube ich inzwischen klar geworden, dass globaler Handel in der Welt nur funktioniert, wenn Werte basierende Einwände gegenüber Handelspartnern dabei vernachlässigt werden.


Klar ist aber auch, dass Systeme Werte benötigen und sich an diesen Werten orientierend selbst organisieren müssen, in einer bipolaren Welt dann freilich auch gegeneinander: politisch, sozial, wirtschaftlich und militärisch. 


Es kann nicht sein, dass einzelne Staaten einer Wertegemeinschaft als Garanten für alle anderen dieser Gemeinschaft auftreten müssen, nur weil sie z.B. über eine besondere militärische Zerstörungskraft als Drohszenario verfügen. Diese Drohfähigkeit muss ebenfalls diversifiziert werden: bisher nannte man dies „atomare Teilhabe“ z.B. in der NATO. Ich höre schon die Stimmen, die nun schreien: bloß nicht! Aber was bedeutet heutzutage „Wehrhaftigkeit“? Einer für alle, alle für einen - die Rolle der USA wird hier in Europa immer noch falsch verstanden.


Ja, eine Staaten übergreifende Wertegemeinschaft muss gemeinsam und in Absprache agieren, sie muss aber jeweils in den beteiligten Staaten auch über gleiche Machtdurchsetzungsmittel verfügen, sonst steht das ganze System auf tönernen Füßen. Ich möchte dabei nicht erst an die Amtsführung eines Donald Trump erinnern, die das bestehende europäische Machtvakuum nocheinmal verdeutlichten.


Internationale Sicherheitsbündnisse


Die internationale Staatengemeinschaft der vollständigen und unvollständigen Demokratien in Abgrenzung zu den Hybridregimen und autoritären Systemen muss sich angesichts des vökerrechtswidrigen Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine also neu aufstellen.


Dies muss unbedingt noch vor irgendwelchen angestrebten Friedensverhandlungen zwischen Russland und Ukraine geschehen, denn die bisherigen Systeme als Garanten einer Friedensordnung sind bereits augenscheinlich gescheitert und werden bei einer Beibehaltung auch zukünftig scheitern.


Der Kremel unter der Führung Putins hat seit 2014 bewiesen, dass er nie gewillt war und in Zukunft nicht gewillt sein wird, sich an von ihm eigentlich einmal mitverhandeltes und unterschriebenes internationales Recht so wie an unilateral oder bilateral mit ihm ausgehandelte Verträge, zu halten.


Es ist unerträglich, wenn zum gegenwärtigen Zeitpunkt des Krieges aus intellektuell-phillosophischen und politischen sowie theologischen Kreisen der „noch“ freuen Welt immer wieder mangelder Verhandlungswillen auf der Seite der Ukraine-Unterstützer festgestellt wird und noch mehr Verhandlungswille angemahnt wird, meist aus einer latenten Befürchtung heraus, der Aggressor könnte noch aggressiver werden, bzw. der Krieg könnte ein Weltkrieg werden. Gleichzeitig werden vehement die fortwährenden Signale des Kremel ignoriert, was dessen Haltung zur Ukraine und ihrer Unterstützer betrifft, und was die konkreten Kriegsziele des Kremel betrifft.


„Man sollte keine direkte Kriegspartei bei diesem Krieg werden“ sind die Befüchtungen erwachsener und intelligenter Verhandlungsfürsprecher, die versuchen, mit Wortgebilden formaler Rechtsinstitute und mit mit eigenen Phantasien über „rote Linien“ gegen eine ohnehin nicht beherrschbare Realaggression eines im allgemeinen Rechtsraum ignorant agierenden Potentaten und seiner Gefolgsleute vorzugehen. Aus dessen Sicht ist der „Westen“ mit ihm ohnehin de facto bereits im Krieg!

Der Kremel hat längst deutlich gemacht, was er von „unserer“ Weltordnung hält und sucht bereits Verbündete für „seine“ neue/alte Weltordnung als Gegenpol zur „freien“ Welt mit ihren Individual- und Menschenrechten. Und er findet sie.


Verhandlung statt Waffen


Mit wem also und um was bitteschön möchte man zum jetzigen Zeitpunkt verhandeln, Herr Precht, Herr Welzer, Frau Käßmann, Herr Müller, Herr…., Frau….?


Wünschen und Fordern folgen unterschiedlichen Zeitqualitäten: wünschen kann man immer, fordern sollte man hingegen immer erst, wenn die Zeit dafür reif ist!


In Zeiten des Krieges gibt es historische Erfahrungen, wann ein Verhandlungswille der betroffenen Kriegsparteien reif genug für Verhandlungen ist. Die Grauen des Krieges, das permanente tägliche Sterben Unschuldiger aber hat diesen Zeitpunkt historisch noch nie bestimmt, sondern vielmehr die wachsende Überzeugung der beteiligten Anführer, dass die Kriegsziele mit Waffengewalt eben nicht mehr zu erreichen sind. 


Da kommen sie wieder, die Kriegsziele: Der Kremel will nach wie vor die russische Föderation um das Territorium der gesamten Ukraine vergrößern, auf die Menschen dort kann er dabei aber liebend gerne verzichten, denn soviele Umerziehunglager kann er gar nicht einrichten, und er unterstreicht dies auch durch tägliche, menschenverachtende Angriffe auf die Zivilbevölkerung und die zivile Infrastruktur. Die Ukraine ihrerseits möchte Mitglied der freien, selbstbestimmten Welt bleiben mit neuer Bindung an die EU und den Westen und  unter dem Schutz der NATO.


Kann man diese Fakten tatsächlich beharrlich ignorieren? Frieden möchten wir im Westen zumindest alle, im Osten sieht das aber ganz anders aus. Wer aber kann dann zukünftig Frieden überhaupt garantieren? 


Garanten des Friedens


Die bisherigen Institutionen haben nach Ende des 2. Weltkrieges versagt. Vetorechte gerade jener Mitglieds-Nationen, die mit unseren westlichen Wertevorstellungen nichts am Hut haben, haben die UN zu einem zahnlosen Tieger gemacht. Die NATO mit ihrem Handreichungen gegenüber den postsowjetischen Staaten nach Zusammenbruch der UdSSR hat ebenfalls die kriegerische Gegenwart nicht verhindern können - sie hätte es auch bei allen gemachten Fehlern nicht wirklich können.


Auch andere, gescheiterte Verhandlungen zeigen, was von Verabredungen mit dem Kremel künftig zu halten ist, Zitat SWR2 Archiv:


„Verzicht auf Atomwaffen im Gegenzug zu Sicherheitsgarantien: Das war Inhalt des "Budapester Memorandums (KSZE, heute OSZE)" 1994. Auch Russland sagte damals der Ukraine eine Achtung seiner Souveränität zu. Gleichzeitig sperrte sich Russland gegen die NATO-Osterweiterung… .“


Die Ukraine war nach dem Zusammenbruch der UdSSR plötzlich drittgrößte Atommacht. Aber auch Belarus und Kasachstan hatten Atomwaffen aus den Beständen der ehemaligen UdSSR. Diese drei Ex-Sowjetrepubliken unterzeichneten den Atomwaffensperrvertrag und bekamen im Gegenzug von den hauptsächlichen Vertragsstaaten USA und Russland Sicherheitsgarantien bezüglich ihrer Souveränität. 1997 erkennt u.a. Russland sogar die NATO-Osterweiterung an, die seit Putin nun als Bedrohung Russlands verstanden wird. Interessanter Weise hört man von ihm kaum ein Wort über die inzwischen drohende Norderweiterung direkt vor seiner Haustüre, die er mit seinem Überfallkrieg auf die Ukraine provoziert hat.


Es macht einen Unterschied, ob man verbales Beharren auf Menschenrechte und internationale Gepflogenheiten als Provokation ansieht, oder aber tatsächliche, militärische Überfälle, wie auch immer diese dann gerechtfertigt werden. Auch hier gilt wieder einmal: der Westen „redet“, der Osten „handelt“.


Machen wir uns also nichts vor: die Welt ist nach wie vor (nach und vor dem Kalten Krieg) gespalten in jene, die Individualrechte in demokratischen Gebilden vor Kollektivrechte setzen (Westen) und jene, die Kollektivrechte autoritär über Individualrechte setzen (Osten).


Der Osten will ausdrücklich diese Bipolarität beibehalten und ist der Meinung, der Westen hätte sie beseitigen wollen - das sind die Fakten. Der Osten fürchtet sich vor einer aus seiner Sicht verwahrlosenden, westlichen Zivilgesellschaft, in der „weibliche Werte“ den alten „Machoverhalten der Männerwelt“  in die Quere kommen. Die Vertreter des Patriarchats kämpfen ihre letzte Schlacht!


Der „Kommunismus“ mit seiner Wirtschaftsordnung des Sozialismus spielt dabei schon längst keine Rolle mehr: auch im Osten erblüht der Kapitalismus. Bereits unter Gorbatschow machte sich mit dem Kapitalismus in den ehemaligen Sowjetrepubliken auch die Korruption breit.


Zweierlei Maß


Mit dem inzwischen fallengelassenen Begriff „Schurkenstaat“ hatten die USA und GB beim Irak-Krieg an den Bestimmungen der UN vorbei ebenfalls einen Angriffskrieg vom Zaune gebrochen. Darüber gibt es einen interessanten Artikel über das gefährliche Konzept eines „Schurkenstaates“ der USA von Noam Chomsky, das inzwischen von den USA ersetzt wurde durch das Konzept „state of condern“ (besorgnis erregende Staaten:


„In der UN-Charta heißt es: "Der Sicherheitsrat stellt fest, ob eine Bedrohung oder ein Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung vorliegt; er gibt Empfehlungen ab oder beschließt, welche Maßnahmen aufgrund der Artikel 41 und 42 zu treffen sind, um den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren oder wiederherzustellen." Wobei Artikel 41 die präferierten Maßnahmen "unter Ausschluß von Waffengewalt" aufzählt, während Artikel 42 dem Sicherheitsrat das Recht einräumt, weiter gehende Schritte zu unternehmen, wenn er die besagten Maßnahmen für unzulänglich hält.

Die einzige Ausnahme wird in Artikel 51 formuliert, der jedem Staat das "naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung" gegen einen "bewaffneten Angriff" zugesteht, und zwar "bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat". Von diesen Ausnahmen abgesehen, sollen die UN-Mitgliedstaaten "in ihren internationalen Beziehungen (...) jede Androhung oder Anwendung von Gewalt" unterlassen.“


Hier werden explizit die Ausnahmen des internationalen Rechts genannt, die endlich alle selbsternannten „Rote-Linien-Mahner“ einmal beherzigen sollten.


Hier liegt aber auch einer von mindestens zwei  Hunden bei der heutigen UN begraben: der Sicherheitsrat benötigt Einstimmigkeit, beherbergt allerdings auch genau jene Staaten, die genau jene Handlungsweise erwarten lassen, gegen die diese Vorschriften erlassen wurden.


Der zweite begrabene Hund ist der, dass die UN auch bei demokratischen Staaten (USA und GB) z.B. beim Irak-Krieg nicht in der Lage war, einen Verstoß zu ahnden.


Mithin wurde  über den neuen Begriff „Terrorismusbekämpfung“ seit 9/11 ein Freifahrtschein für beliebigen Gewalteingriffe eines Staates in fremde Staaten z.B. auch mit Drohnen etabliert.


Schlussfolgerungen


Die Bündnisse UN und NATO sind mit dem Zusammenbruch der UdSSR obsolet geworden und müssen auf neuer Basis organisiert werden.


Europa benötigt eine eigene Sicherheitsarchitektur, auch militärisch. GB und Frankreich verfügen über atomares Drohpotential. Macron hatte bereits der Bundesregierung angeboten, diese Waffen in einer europäischen Sicherheitsarchitektur einzubinden - das wurde leider von der Bundesregierung damals abgelehnt!


Ein wertebasierendes, westliches Sicherheitsbündnis müsste nach dem Demokratieindex die zwei Gruppen von Staaten mit vollständigen und unvollständigen Demokratien umfassen.


Einstimmigkeit wäre durch Mehrheitsrecht zu ersetzen, was Entscheidungen für internationales Handeln auch in militärischer Hinsicht betrifft.


Mit den restlichen zwei Gruppen - Hybridregime und autoritäre Systeme - können Wirtschafts-, Soziale- und Umwelt- und sonstige Hilfsysteme vereinbart werden.


Dort müsste sich ein neues, westliches Bündnissystem darum bemühen, die Vorteile eines „Miteinander“ gegenüber einem „Gegeneinander“ zu verdeutlichen, aber nicht zu missionieren!


Miteinander oder Gegeneinander?


Betrachten wir doch einfach ein „Gegeneinander“ als Übergangsform zu einem „Miteinander“ und nicht als Gegensätze.


An den Aufständen der Frauen damals in Belarus und aktuelle im Iran und Afghanistan wird deutlich, 

dass eine natürliche Entwicklungskraft in der Menschheit vorhanden ist, und sie wird von Frauen getragen.


Letztlich werden „Krieger“ von Frauen geboren und großgezogen, und es sind die Frauen, welche die Menschenverluste an den Kriegsfronten der Welt am meisten beklagen. Männer können sich noch was vormachen mit heroischen Taten für religiöse oder idealistische Ziele, die Frauen hingegen können hinter diese Fassade blicken.


Mit diesen Überlegungen komme zumindest ich zu dem Schluss, dass beim gegenwärtigen Krieg Russland/Ukraine beherzte Solidarität der Ukraine-Unterstützer gefragt ist, auch und gerade militärisch. Pazifismus ist das Ziel, aber er kann sich nur auf Augenhöhe aller Beteiligten realisieren. Ich stehe da fest an der Seite unseres ehemaligen Bundespräsidenten Gauck, der bei Markus Lanz unter anderem hervorhob:


«Der Verzicht auf Waffenlieferung ist im Prinzip eine Begünstigung des Aggressors.»


Zu Recht macht er darauf aufmerksam: Um zu verhandeln, müsse man respektiert werden, und Respekt verdiene man nur, wenn man dem Gegner auch Niederlagen beibringen könne. 


Wie also kann ein solcher Respekt erlangt werden? Indem militärisch der Aggressor gezwungen wird, die jüngsten illegalen Annektionen von vier Gebieten der Ukraine rückgängig zu machen - ja, das wäre ein Gesichtsverlust Putins, Herr Macron, aber ein unvermeidlicher!


Dazu müsste die Ukraine militärisch in den Stand gesetzt werden, die russischen Streitkräfte aus diesen von ihr besetzten ukrainischen Gebieten wieder zu verdrängen. Und das geht nur mit wirklichen Kampfpanzern bei gleichzeitiger Absicherung des Luftraumes und dem Aufbau und der Installation eines politischen Schutzbündnisses, dass diesen Namen auch Wert ist.


Absprache vs. Führerschaft


Man kann es nicht mehr mit anhören, die ständige Entschuldigung zögerlichen Handelns auf der Seite Deutschlands mit der Notwendigkeit von Absprachen mit den anderen Ukraineunterstützern. Nur weil wir mal einem schlimmen „Führer“ folgten, müssen wir nicht jeglicher Führerschaft in Europa in Zukunft entsagen.


Die Angst des Überschreitens von „roten Linien“ wurde bereits weiter oben m.E. ad absurdum geführt.


Man kann mit den Partnern auch absprechen, dass man den Leopard 2 an die Ukraine ausliefert und dass man mit der Ausbildung ukrainischer Soldaten an diesem Gerät in Deutschland bereits jetzt beginnt.


Die Ukraine hat aktuell Probleme, die Ostfront zu halten. Wie lange möchte man noch warten? Bis die ukrainische Armee den unter vielen Verlusten erarbeiteten Respekt beim Kriegsgegener wieder verliert?


Dies ist der Zeitpunkt der Militärexperten und eben nicht der der pazifisstischen Verhandlungsstrategen oder der halbherzigen alles recht Macher „in den Augen des Volkes“.


Sollten die aktuellen Grenzlinien sich erstmals wieder zu Ungunsten der Ukraine verschieben, dann ist der Krieg nicht nur für die Ukraine, sondern auch für Europa verloren, und dann darf tatsächlich berechtigte Angst vor einem expandierendem Putin in Europa beklagt werden.

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